Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
ist intelligent und mutig. Er hat keine Angst vor mir, obwohl er nie zuvor eine Shiro gesehen hat.«
»Angst vor einer Shiro, meine Dame?«, fragte ein Mann, der ostentativ hinkte. »Keines der Kinder, um die ich mich kümmere, wäre so dumm.«
»Hat man dir die Kinder anvertraut?«
»Seitdem ich verwundet wurde, kann ich keine anstrengenden Arbeiten mehr verrichten, also spiele ich die Pflegemutter«, sagte der Mann mit einem so breiten Lächeln, dass Zähne und Zahnfleisch sichtbar wurden. Es schien ihm zu gefallen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. »Ich bin Rino Van Voss, stets zu deinen Diensten.«
Die Kinder waren näher herangekommen und hingen förmlich an Suvaïdar. Eines, das frecher war als die anderen, zerrte an ihrem Ärmel, ein anderes legte mutig die Hand auf ihr Knie.
Rino stieß sie sanft, aber bestimmt zur Seite, doch sofort kamen drei andere herbeigelaufen. Sichtlich fasziniert von Suvaïdar versuchten sie, die fremde Frau zu berühren, bis Rino sie ungeduldig aufforderte, das Zimmer zu verlassen und darauf zu warten, dass man sie zur Blutentnahme rief.
»Entschuldigen Sie, meine Dame«, wandte er sich dann an Suvaïdar, »aber die meisten dieser Kinder haben noch nie einen Shiro gesehen. Ich fürchte, dass sie ihrem Erzieher keine große Ehre machen.«
Die Kleinen gehorchten dem Mann, blieben aber, sich gegenseitig stoßend, auf der Schwelle stehen und flüsterten aufgeregt miteinander. Sie hörten nicht einmal damit auf, als Rino sie mit lauter Stimme fragte, wer von ihnen damit beauftragt sei, die Weintrauben im Obstgarten gegenüber vom Hügel zu ernten.
»Was ist mit deinem Bein passiert?«, wollte Suvaïdar wissen.
»Ein Unfall, meine Dame, und es war mein Fehler. Ich war gerade dabei, einen trockenen Baum zu fällen und bin nicht rechtzeitig weggelaufen. Der Baum ist auf mich gefallen.«
»Meine Kinder sind eine Bande von Zerstreuten«, brummte die Alte, die das Haus führte. »Vor ein paar Tagen hat eines von ihnen einen Topf heißes Wasser über sich gekippt, und ein anderes hat das Tor zur Koppel aufgelassen. Wir haben den ganzen Tag gebraucht, hinter den hundertneunzehn Kühen herzulaufen, die in den Gemüsegarten und auf die Maisfelder gelaufen sind. Sie haben unsere Vorräte für zwei Wochen aufgefressen.«
»Ach ja?«, fragte Suvaïdar interessiert. »Du bist wirklich sehraufmerksam, Alte. Das ist der Grund, weshalb ich die Blutanalysen mache. Es scheint, als gäbe es bei den Leuten, die weit weg vom Meer leben, einen Vitaminmangel, der Einfluss auf das Konzentrationsvermögen hat und vielleicht auch zu höherer Aggressivität führt. Sind deine Kinder und Kindeskinder Raufbolde?«
»Die Jungen sind jedenfalls nicht mehr wie früher«, murmelte die Alte und begann, Geschichten über Kinder zu erzählen, die besonders unruhig oder streitlustig waren, doch es waren bloß unbedeutende Anekdoten. Suvaïdar schrieb es der Neigung der alten Asix zu, vergangenen Zeiten nachzutrauern, in denen angeblich alles besser gewesen war.
Sie bat Rino, sich auszuziehen, um sein Bein sorgfältig untersuchen zu können. Auf dem linken Oberschenkel verlief eine garstige Narbe, lang und ungleichmäßig, aber gut verwachsen. Verglichen mit dem Rest des Körpers, der kräftig und muskulös war, waren der Oberschenkel und die Wade extrem dünn. Möglicherweise war ein Nerv verletzt, oder die Selbstregenerierung des Nervengewebes hatte nicht richtig funktioniert. Das kam oft vor, denn es war ein unberechenbarer Prozess, wie Suvaïdar sehr gut wusste. Im Fall von Rico beispielsweise, ihrer Sei-Hey, hatte der Prozess gar nicht erst eingesetzt.
Suvaïdar wollte die Reflexe des Mannes prüfen, doch es gab keine. Seufzend sagte sie ihm, er könne sich wieder anziehen; sie hatte bemerkt, dass er sich im Zimmer fortbewegte, indem er sich an den Wänden und an der Anrichte festhielt. Eine Krücke besaß er nicht. Er musste sich abstützen, um aufrecht gehen zu können.
»Wann hat dich zum letzten Mal eine Jestak untersucht?«, fragte sie.
»Nach dem Unfall ist ein fliegendes Modul gekommen«, antwortete der Mann stolz. »Aus Gaia, extra für mich. Ich bin zehn Tage im Hospital geblieben. Oh, war das schön, Shiro Adaï! Ich hatte nichts anderes zu tun, als auf meiner Matte zu liegen, und um mich herum waren lauter Shiro-Damen, die sich um mich gekümmert haben. Sie sprachen über meinen Fall und berührten mein Bein. Wie schade, dass ich nichts gefühlt habe. Ich habe nicht einmal gemerkt,
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