Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
wartet.
Glücklicherweise war der Nachmittag bereits weit fortgeschritten, und das schmale Bett des Gebirgsbachs wurde nur schwach beleuchtet. Ein Shiro hätte sie nicht sehen können. Blieb nur noch zu hoffen, dass nicht irgendein Asix sie bemerkte und zu ihrer Rettung ins Wasser sprang. Eine Zeitspanne, die ihr unendlich vorkam, ließ Suvaïdar sich vom Wasser tragen. Dabei hoffte sie inständig, nicht auf einen Wasserfall oder eine Stromschnelle zu treffen. Nachdem sie die letzten Vororte Gorivals hinter sich gelassen hatte, begann sie zu schwimmen, um dem Fluss zu entkommen und aus dem Wasser steigen zu können.
Beim ersten Versuch gelang es ihr nur, sich auf einem Felsen zwei Fingernägel abzubrechen, bevor der ungestüme Strom sie von Neuem erfasste und auf die Kiessteine einer Stromschnelle schlingern ließ – eine schmerzhafte Erfahrung. Das kalte Wasser, das von der Gletscherschmelze stammte, hatte ihre Gliedergefühllos gemacht, sodass sie ihre schmerzenden Wunden nicht spüren konnte. Allerdings bedeutete das auch, dass sie sich nicht mehr bewegen, geschweige denn schwimmen konnte.
Schließlich gelang es ihr, sich an einem großen Ast festzuhalten, der dicht über dem Wasser hing, und sich vorsichtig daran entlangzuziehen, eine Hand nach der anderen. Sie schaffte es tatsächlich, dem Strom zu entkommen und Fuß zu fassen. Als das Wasser ihr bis zum Bauch reichte, watete sie langsam in Richtung Ufer, bis es endlich vor ihr erschien.
Suvaïdar ließ den Ast los, schleppte sich mühsam ein paar Schritte voran und ließ sich auf den Bauch fallen, ausgebrannt, verfroren, mit blauen Flecken und Abschürfungen bedeckt und von Entsetzen erfüllt.
Noch vor ein paar Tagen dachte ich, dass eine Reise so ganz allein auf unserem Planeten ungefährlich sei, sagte sie sich voller Verbitterung. Wie unglaublich dumm man doch sein kann. In Wirklichkeit habe ich trotz meiner rebellischen Veranlagung immer an das Sh’ro-enlei geglaubt. Es hätte jedem, der einen Groll gegen Evin Bur hegte, auferlegt, ihn vor Zeugen zu einem Duell zu fordern.
Was musste das für ein Mann sein, dass er es lieber riskierte, sterilisiert oder in die Minen von Nova Estia geschickt zu werden, statt seine Gegner in einer Akademie zu treffen, wie alle zivilisierten Menschen es taten?
Nur mit Mühe hielt Suvaïdar sich aufrecht. Sie entdeckte, dass der sonst so angenehm frische Zephyr, der im Gebirge wehte, auf einer vom eiskalten Wasser durchweichten Haut wie Feuer brennen konnte. Zudem waren die Nächte in mehr als zweitausend Metern Höhe sehr kalt.
Suvaïdar fühlte sich müde und erschöpft, und in ihrem Kopf wirbelten die Gedanken. Einen Moment war sie geneigt, sich hinzulegen, um auszuruhen und den Morgen abzuwarten, doch ihr war klar, dass das keine gute Idee war. Es wäre der Gipfel der Ironie, wenn sie auf einem so heißen Planeten wie Ta-Shima an Unterkühlung sterben würde.
Sie fühlte sich zu schlecht, um dem roten Faden ihrer Gedanken noch folgen zu können. Es gab jetzt nur eine Sache, die wichtig war: Sie musste sich bewegen, um die Wärme des Körpers zu bewahren. In der Dunkelheit riss sie die Augen auf und versuchte, den Weg zu finden, der am Gor entlang führte, wenn sie sich recht erinnerte. Nach ein paar Minuten panischen Umherirrens zwischen glitzerndem Kies und Wasserlachen in stockdunkler Nacht fand sie es schließlich: ein dunkelgraues Band, glatt, kaum sichtbar in der dichten Finsternis. Sie atmete tief ein und lief los.
Die ganze Nacht hindurch legte sie eiserne Disziplin an den Tag. Sie rief sich die Vorbereitungen auf die Volljährigkeitsprüfungen in Erinnerung und wechselte immer wieder zwischen Laufen und Gehen: fünfhundert Schritte laufen, fünfhundert Schritte gehen. Während sie lief, wiederholte sie, um den Rhythmus zu halten, mit leiser Stimme die Leitsprüche der Akademie, einen archaischen und kaum verständlichen Text in der Hochsprache:
Respekt vor dem Meister, dem Trainingspartnern und dem Fechtsaal, das ist das Wichtigste ... Schmerz und die Angst zu besiegen heißt, seine menschlichen Eigenschaften zu verbessern, das ist das Wichtigste ... Wer mit Ausdauer trainiert, kann seine körperlichen Grenzen überschreiten, das ist das Wichtigste ...
Als sie noch klein gewesen war, hatte sie Doran Huang gefragt, warum jedes Mal der Satz »das ist das Wichtigste« wiederholt wurde. Müsste es nicht heißen »das ist das Zweitwichtigste, das Drittwichtigste und so weiter«? Doran hatte sie für ihre
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