Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
war mit den beiden anderen durch eine breite, bequeme Straße verbunden, für deren Unterhalt die Clans allein verantwortlichwaren. In Nova Estia jedenfalls gab es ein Haus der Huangs und ein Lebenshaus, wo man ihr vielleicht helfen würde.
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Als Suvaïdar nach mehreren Stunden Schlaf die Augen öffnete, war ihr erster Gedanke, sich das Laken über den Kopf zu ziehen und so zu tun, als würde sie noch schlafen. Doch dann fiel ihr wieder ein, dass sie nicht in ihrem Bett lag. Seufzend erhob sie sich.
Sie verzog das Gesicht, als sie bei Tageslicht aufmerksam ihre rechte Hand betrachtete. Die Nägel von Zeige- und Mittelfinger waren bis zur Mitte der Fingerkuppe abgebrochen. Sie bluteten nicht, doch die Enden ihrer Daumen waren rot und geschwollen. Die anderen Wunden waren nur oberflächliche Hautabschürfungen, die sich bereits geschlossen hatten. Vorsichtig betastete sie ihren Kopf und entdeckte zwei große Beulen. Wenigstens hatte sie sich nichts gebrochen, wie sie mit Erleichterung feststellte.
Während sie ihre Kleidung überstreifte, die immer noch ein wenig feucht war, schien die Lösung ihrer Probleme zum Greifen nahe. Es gibt einen Shiro-Kodex, sagte sie sich, der uns Verhaltensregeln auferlegt und andere Dinge regelt, zum Beispiel, dass wir den Asix gegenüber verantwortlich sind, wenn sie uns um Hilfe bitten. Wenn es etwas Entsprechendes nicht für die Asix gäbe, wäre der Kodex überflüssig. Die Asix benötigen allerdings keinen schriftlichen Text, den die Reitpeitsche der Lehrer an der Schule den Widerspenstigen ihnen einprügeln müsste; der Asix-Code ist vielmehr Teil ihres genetischen Erbgutes. Ich brauche kein Geld und auch keine Arbeit, um mir ein Nachtlager und eine Decke bezahlen zu können. Es reicht voll und ganz, an die Tür eines von Asix bewohnten Bauernhofes zu klopfen und ihnen zu erklären, dass ich in Gefahr bin.
Suvaïdar versuchte sich an jenen Plan zu erinnern, den sie in Gaia aufgezeichnet hatte. Sie kannte die möglichen Wege und die Lage der Höfe, die sie auf der Strecke zwischen Gaia und Gorival für einen Besuch vorgesehen hatte. Darunter gab es einen Hof, an den sie sich gut erinnerte, weil sie beim Durchblättern derListe mit den Arbeitern auf den Namen »Suvauan« gestoßen war. Die Ähnlichkeit dieses Namens mit dem ihren hatte sie bewegt, seine Herkunft zu untersuchen. Und tatsächlich, er war eines der Kinder, das das Lebenshaus ihr in jungen Jahren bereits zugesagt hatte.
Der Vater war ein Asix, der auf natürliche Weise bereits fünf Töchter mit zwei festen Partnerinnen – Schwestern – gezeugt hatte. Und er hatte sich überaus geehrt gefühlt, einen Sohn von einer Shiro haben zu dürfen. Der Kleine gehörte, wie es bei Halbkindern üblich war, dem Clan seines Erzeugers an, doch man hatte ihm einen Namen gegeben, der der Gegensatz zu dem seiner biologischen Mutter war. Das war bei den Asix durchaus üblich, weil sie stolz darauf waren, ein Halbkind zu haben, einen halben Shiro. Suvaïdar war neugierig, ob Suvauan, der in ein paar Tagen seine elfte Trockenzeit beginnen würde, Ähnlichkeit mit ihr hatte. So etwas kam manchmal vor, vor allem bei der ersten Generation. Die Asix-Merkmale waren stets dominant, während die Shiro-Züge sich bei den Halbkindern manchmal verwässert wiederfanden. Grundsätzlich aber sahen sie aus wie ein typischer Asix.
Suvaïdar vermisste schmerzlich ihren Beutel, in dem sich der unerreichbare, kostbare Plan befand. Der Beutel war in Gorival in den Gebirgsbach gefallen. Sie versuchte sich zu erinnern. Um zu dem Bauernhof zu kommen ... wie hieß er gleich? Er hatte einen seltsamen Namen. Ach ja, »Die junge Kuh der drei Monde«. Konnte man sich für einen Bauernhof einen dümmeren Namen vorstellen? Jedenfalls, um zu diesem Hof zu gelangen, musste man nach ungefähr zwanzig Kilometern die Hauptstraße verlassen und eine andere Richtung einschlagen. Es stellte sich allerdings die Frage, wo sich die Abzweigung befand. Außerdem wusste Suvaïdar nicht, wo sie sich befand. Und wie viele Kilometer konnte sie in einer Nacht laufen? Zehn? Fünfzehn? Zwanzig?
Die Straße war abschüssig; womöglich war sie schon zu weit gelaufen. Es blieb ihr wohl nichts anderes übrig, als an die erste Bauernhoftür zu klopfen und sich zu erkundigen – in der Hoffnung, nicht zu viele Spuren hinterlassen zu haben, falls sie verfolgt wurde.
Suvaïdar war äußerst schlecht gelaunt, als sie nach zwei weiteren Tagen schnellen Fußmarsches den Hof »Die junge Kuh
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