Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
Unverschämtheit nicht bestraft; stattdessen hatte sie zu Suvaïdar gesagt, sie solle nachdenken und die Lösung selbst herausfinden. Zu Beginn jeder Trainingsstunde hatte sie das Mädchen gefragt, ob sie die Lösung bereits gefunden hätte. Jedes Mal, wenn Suvaïdar mit Nein antwortete, befahl Doran ihr und allen anderen, zusätzlich hundert Übungen für die Bauchmuskulatur zu machen.
Die ganze Klasse begann fieberhaft über die Bedeutung der Leitsprüche nachzudenken, die sie alle bis dahin wie eine Litanei auswendig wiederholt hatten, bis schließlich einer von ihnen die Lösung fand. Und das nächste Mal konnte Lara stolz verkünden:
»Das bedeutet, dass alle Leitsprüche denselben Wert haben und gleichermaßen von Bedeutung sind.«
»Bist du ganz allein darauf gekommen?«
»Nein, Meisterin, wir alle haben jeden Tag darüber gesprochen, und nach und nach ist uns die Antwort klargeworden. Doch es war Ares, die die richtige Formulierung gefunden hat«, hatte Suvaïdar geantwortet und auf ein kleines Asix-Mädchen gewiesen.
Doran Huang stimmte zufrieden zu.
»Was lernt ihr daraus?«
»Niemals Fragen zu stellen«, hatte das zuerst gefragte Kind zögernd geantwortet. Irgendjemand hatte gelacht, doch die Meisterin hatte die Augenbrauen hochgezogen, und sofort herrschte wieder absolute Ruhe im Fechtsaal.
»Genau so ist es. Man soll Erwachsenen keine Fragen stellen, sondern versuchen, selbst die Lösung zu finden. Doch ich spiele auf etwas ganz Bestimmtes an.«
»Wir haben alle zusammen die Lösung gefunden, allein hat es keiner von uns geschafft«, hatte ein kleines Mädchen, das kaum sechs Trockenzeiten alt war, gemurmelt.
»Genau. Deshalb leben wir in Clans zusammen. Niemand könnte auf Ta-Shima allein überleben.«
Doran hatte die Trainingsstunde gerade wieder aufgenommen, als sich plötzlich ein kleiner Asix zu Wort meldete.
»Man hat noch etwas daraus gelernt.«
»Und was?«, hatte Doran gefragt.
»Dass es nicht wahr ist, dass die Asix weniger intelligent sind als die Shiro«, hatte der Kleine gesagt, erschrocken über seinen eigenen Mut.
Doran hatte ihn einen Moment lang schweigend gemustert, während sich alle anderen gefragt hatten, was in den Jungen gefahren sein mochte, dass er sich derart dreist einmischte. Doch die alte Meisterin hatte sich damit begnügt, dem Jungen mit einem Handzeichen zuzustimmen, und hatte die Stunde dann fortgeführt.
Suvaïdar skandierte die fünf Leitsprüche, einen nach der anderen und dann wieder von vorn, um sich beim Laufen anzutreiben. Nachdem sie die Sprüche mehrmals wiederholt hatte, ging sie zu den sieben Regeln und danach zu den neun Prinzipien über. Allmählich fiel die Angst von ihr ab, und ihre Schritte wurde gleichmäßiger. Allerdings wagte sie es nicht, einen Blick nach hinten zu werfen, um die Dunkelheit zu erkunden.
Die Straße querte Felder und Obstwiesen. Mittendrin erspähte Suvaïdar eine obskure, ungleichförmige Masse. Es war mehr eine Ahnung, als dass sie wirklich etwas hätte sehen können. Es konnten die Viehställe eines Bauernhofs sein. Doch Suvaïdar blieb nicht stehen – auch dann nicht, als sie ein zitterndes Licht an einem der Fenster bemerkte. Sie wusste, dass nicht weit von hier das Landwirtschaftszentrum zu finden war, wo Rin und Mauro arbeiteten; deshalb setzte sie ihren Weg fort.
Während sie lief, wurden weiterhin die Bilder von dem Unfall – nein, von dem Mord – vor ihrem inneren Auge abgespielt, wie in einem Holo-Schauspiel, das ständig wiederholt wurde, bis schließlich eine unangenehme Wahrheit zutage trat, anfangs noch wirr, dann glasklar.
Es schien ihr, als hätte Bur den Blick gehoben, um sie voller Schrecken anzuschauen, kurz bevor er ihr den Faustschlag versetzt hatte. Könnte es sein, dass er etwas gesehen hatte, das hinter ihr stand? Hinzu kam, dass es nicht einfach gewesen sein konnte, einen Stein mit solcher Wucht zu werfen, dass er den harten Frontalknochen zerschmetterte.
Nein, irgendjemand musste sich bis zur Ecke des Gebäudes geschlichen haben. Der Lärm des Gebirgsbaches hatte verhindert, dass sie ihn hören konnten. Der Mörder war näher herangekommen und hatte Evin den schweren Stein an den Kopf geworfen, um ihm den Schädel zu zertrümmern. Es war einzig und allein dem wachen Geist Evin Burs zu verdanken, dass Suvaïdars Haut gerettet worden war.
Was nun?, fragte sie sich. Sie wusste nicht, wer es auf sie abgesehen hatte und wie sie sich schützen sollte ...
Sie wollte nicht glauben, dass ein
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