Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
Asix eine solche Tat begehen konnte. Dennoch versuchte sie, diese Erklärung von allen möglichen Seiten zu beleuchten. Eine einzige Hypothese erschien ihr wahrscheinlich, nämlich die, dass es jemanden gab, der gewissenlos und korrupt genug war, einen armen Asix so zu manipulieren,dass er einen Mord beging. Trotzdem konnte diese Hypothese einem Beweis nicht standhalten. Dass man einen Asix dazu bewegen konnte, ein Blutverbrechen gegen eine Shiro zu verüben, schien Suvaïdar eher unwahrscheinlich.
Wie auch immer, selbst wenn man absurde Schlüsse zog und davon ausging, dass diese Erklärung stimmte, war es doch wichtiger zu wissen, wer der Auftraggeber gewesen war, als das Instrument der Freveltat zu kennen. Und bei dem Auftraggeber konnte es sich zwangsläufig nur um einen Shiro handeln.
Aber warum?, fragte Suvaïdar sich zum hundertsten Mal. Und warum auf diese stupide Art? Es hätte doch gereicht, mich zum Duell herauszufordern. Ich glaube nicht, dass es jemanden auf diesem Planten gibt, der noch schlechter mit der Klinge umgehen kann als ich? Oder hatte der Aufraggeber womöglich die Absicht gehabt, auch Evin Bur töten zu lassen?
Die Morgendämmerung überraschte Suvaïdar, während sie trotz heftiger Wadenkrämpfe immer noch lief. Ihre Kleidung war nicht trocken geworden, weil es die ganze Nacht geregnet hatte. Ohne ihren Mantel, den sie bei ihrem ersten Hechtsprung verloren hatte, hatte sie sich nicht mehr schützen können. Sie war nass bis auf die Knochen, und vor Kälte klapperte sie mit den Zähnen. Jeder Quadratzentimeter ihrer Haut schien wund zu sein.
Ich muss rund fünfzehn Kilometer gelaufen sein, schätzte sie. Wenn irgendwer mich sucht, würde es reichen, wenn er die Hauptstraße entlanggeht, so wie ich. Wohin sonst sollte ich mich in der Dunkelheit bewegen? Mich auf einem Fußpfad ohne Ziel verirren? Jetzt ist es schon hell. Wenn mich jemand zu Pferd verfolgt, wird er mich bald aufgegriffen haben ...
Sie blickte sich um. Die Straße, die das Vorgebirge hinunterführte, schien verlassen zu sein. Gleichwohl konnte jemand hinter der letzten Biegung näherkommen, genau in diesem Augenblick. Sie lief weiter und beobachtete die Landschaft, die sich langsam aus dem milchigen Nebel der Morgendämmerung schälte.
Mit einem Mal sah sie mitten auf einer Wiese, ein Stück weit entfernt von der Straße, ein kleines Gebäude, das unbewohnt zu sein schien. Sie lief quer über die Felder darauf zu. Zwischendurchschaute sie sich immer wieder um, ob sie Spuren hinterließ, doch das Gras richtete sich wieder auf, nachdem sie darübergelaufen war.
Bald hatte sie die Hütte erreicht. Es handelte sich um einen leeren Kuhstall, wahrscheinlich für das Vieh, das von hier aus einige Tage in die Berge ging, um während der Trockenzeit dort zu bleiben. Die Hütte war vollkommen sauber, ein bisschen zu sauber vielleicht. Die Viehhüter hatten nicht einmal Heu hier gelassen, auf das Suvaïdar sich hätte legen können.
Ich werde hier bestimmt besser schlafen als bei der Volljährigkeitsprüfung im Dschungel, sagte sie sich optimistisch. Die Chance, dass man mich hier findet, ist genauso groß, wie am Ufer des Flusses einen Skorophon zu finden. Ich bin in der Nacht sicher an zwanzig solcher Ställe vorbeigekommen, und davon standen bestimmt nicht alle nahe der Straße.
Suvaïdar kletterte auf den Heuboden, in die dunkelste Ecke. Dann zog sie ihre nassen Kleider aus und breitete sie zum Trocknen auf dem Boden aus. Sie legte sich hin, um nachzudenken.
Die Situation war wenig ermutigend. Sie hatte keinen Cent, um sich etwas Anständiges zu essen besorgen zu können. Sie würde zwar nicht an Hunger sterben, weil es toleriert wurde, wenn Reisenden im Vorbeigehen Obst von den Bäumen pflückten, aber sie würde es niemals bis nach Gaia schaffen, wenn sie sich ausschließlich von Früchten ernährte. Sie musste also die Gastfreundlichkeit der Bauernhöfe in Anspruch nehmen, und da sie diesmal nicht in einer Mission des Lebenshauses kam, musste sie für ihr Essen arbeiten. Das bedeutete, sie würde mehrere Tage benötigen, um die zweihundert Kilometer zurückzulegen, die sie von ihrem Ziel trennten. Sie konnte auch die Fahrkarte für den Pendelverkehr nicht bezahlen, und ihr Kommunikator hatte unter dem Wasser und den Stößen an den Felsen gelitten. Es bestand keine Hoffnung, ihn reparieren zu können.
Nova Estia war ziemlich nah. Sie könnte dorthin gehen. Die drei Städte bildeten mehr oder weniger eine Art Dreieck; jede
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