Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
Letzte«, sagte der Wächter. »Alle anderen sind schon gegangen.«
Ein Blick auf die Sonnenuhr draußen vor der Tür bestätigte es: Der Nachmittag war längst vorbei. Außerdem machten sich bei Lara Hunger und Durst bemerkbar.
»Könnte ich bitte ein Glas Wasser haben?«, fragte sie den Asix-Wächter.
Er lächelte. »Gewiss. All diese Gelehrten kennen sich in Genetik und Medizin aus, aber dass ein kleines Mädchen, das den ganzen Tag hier verbringt, Hunger oder Durst haben könnte, darauf kommen sie nicht.«
Er ging in ein kleines Hinterzimmer und kam mit einer Scheibe Brot, einer Handvoll Oliven und einem Glas Wasser zurück. Zwinkernd reichte er es Lara.
»Danke«, sagte sie, trank schnell aus und gab ihm das Glas zurück. Dann ergriff sie mit einem Lächeln das Brot und die Oliven. Unter den erwachsenen Asix fühlte sie sich viel wohler als mit einem Shiro.
Auf dem Heimweg aß sie die schwarzen, köstlichen Oliven. Die Kerne spuckte sie in den Kanal, als sie sicher war, von keinem Erwachsenen beobachtet zu werden. Gleichzeitig versuchte sie, die vielen Dinge, die sie heute gelernt hatte, in ihrem Kopf zu ordnen.
*
»Was hast du angestellt?«, fragte Laras Pflegemutter, als das Mädchen endlich nach Hause kam. »Wang ist schon seit einer ganzen Weile hier.«
»Ich war im Lebenshaus, Mama Dol.«
»Wirklich? Bist du sicher, dass du nicht irgendwo anders herumgehangen hast?«
»Wo denn? Alle, die ich kenne, sind um diese Zeit in der Schule.Und im Haupthaus«, Lara wies mit dem Kopf in Richtung der grauen Steingebäude, in denen die Erwachsenen des Clans wohnten, »war ich auch nicht, denn da bin ich nicht willkommen. Kann ich etwas zu essen haben?«
Erst jetzt wurde Dol gewahr, dass Lara großen Hunger haben musste. Sie nickte und rief Tarr um Hilfe. Aber der sagte: »Ich muss jetzt zu den Viehzüchtern. Es ist wichtig, dass ich mit dem Hüter der Herden rede.«
»Ich habe dich um etwas gebeten, hast du mich nicht verstanden?«, erwiderte Dol gereizt. »Die Kleine hat den ganzen Tag nichts gegessen.«
»Schon gut, Mama Dol«, mischte Lara sich ein, »du brauchst mir kein Essen zu machen. Ich nehme einen Apfel und ein Stück Brot, dann gehe ich mit Tarr auf den Bauernhof. Wenn ich immer noch Hunger habe, bitte ich dort um ein Stück Käse.« Sie blickte Tarr an und fragte ihn: »Ich kann doch mitkommen?«
Tarr nickte. Lara schnitt sich ein großes Stück Brot von dem Laib ab, der auf dem Tisch lag, nahm sich eine Handvoll rohe Esskastanien und einen Apfel und stieß dann fröhlich hervor: »Ich bin soweit.«
Die Bauernhöfe lagen am Stadtrand. Lara ging gerne dorthin und beobachtete die großen Kühe mit ihren lyrenförmigen Hörnern und die roten Ziegen mit dem kurzen Fell. Was sie vor allem faszinierte, waren die Helfer der Viehzüchter, die Hunde – riesige, zottelige Tiere, sehr wild, doch erstaunlicherweise den Menschen wohlgesinnt.
Unterwegs schälte Lara die Kastanien und teilte sie gerecht mit ihrem Pflegebruder. Dabei erzählte sie ihm, was sie tagsüber erlebt hatte. Tarr sagte kaum etwas, wortkarg wie er nun mal war. Lara fielen die Worte der Jestak ein, als sie Tarr von der Seite musterte, und ganz bewusst erzählte sie ihm etwas Falsches:
»Also, wie ich dir schon sagte, diese Epilepsie ist eine Augenkrankheit, an der die Menschen vor dem Exodus gelitten haben ...«
»Kurzsichtigkeit«, brummte Tarr.
»Kurzsichtigkeit, richtig. Was habe ich denn gesagt?«
»Epilepsie.«
»Oh! Tut mir leid, da habe ich mich geirrt.«
Zufrieden plapperte sie weiter, während sie das nördliche Viertel von Gaia mit den grauen Steinhäusern der führenden Clans, den provisorischen Hütten der Asix und dem Gewirr der Kanäle hinter sich ließen.
Am Ende der Stadt lagen die ersten Felder im perlmuttfarbenem Nebel. Diese Felder dehnten sich, so weit das Auge reichte. Dazwischen gab es flache Gebäude und Weiden, auf denen die Kühe in kleinen Gruppen wiederkäuten.
Sämtliche Viehzüchter gehörten zu den Asix. Sie waren kräftig und untersetzt, mit kurzen, leicht gekrümmten Beinen. Sie waren so massig gebaut, dass man ihnen zugetraut hätte, in jeder Hand eines ihrer Rinder tragen zu können. Enthusiastisch wurde Tarr begrüßt. Er schwang freudig die Arme und rief die anderen bei ihren Namen. Alles ging mit viel größerer Leichtigkeit vonstatten, als Dol beim Zurechtschneiden von Fleisch an den Tag legte.
»Bist du bei der Weidewirtschaft dabei, Tarr?«, fragte ihn eine Frau, deren Schulter-
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