Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
Betttuch war fort. Sie schaute aus dem Fenster, sah aber nirgends einen Reisenden mit einer schwankenden Laterne in der Hand. Nur den feinen Nieselregen.
Du bist eine Närrin, schalt sie sich. Tarr braucht kein Laternenlicht. Den Augen eines Asix reicht das Mondlicht, um sehen zu können.
Sie zündete eine Kerze an und ging zum Gemeinschaftsraum – in der Hoffnung, dort noch auf Tarr zu treffen und seinen großen runden Kopf über eine Tasse Milch gebeugt zu sehen. Aber niemand saß am Tisch. Nur ein Stück Holz lag auf Laras Platz.
Sie nahm es in die Hand und besah es von allen Seiten. Was hatte es damit auf sich? Mit einem Mal erkannte sie, dass es wie ein Hund aussah, der von ungeschickten Händen grob geschnitzt worden war. Man konnte den Kopf erkennen, die Ohren, die Pfoten ... Mit seinem Messer, das eine viel kürzere Klinge hatte als die der anderen, hatte Tarr diese kleine Figur geschnitzt. Lara dachte an seine großen Hände, die schwielig waren von der harten körperlichen Arbeit und vom schweren Säbel, mit dem er an seinen freien Abenden übte. Wie viel Geduld er aufbringen musste, um so etwas zu schnitzen!
Lara ging zurück in sein Zimmer, die kleine Figur fest in den Händen haltend. Sie musste Lärm gemacht haben, denn sie hörte plötzlich ein Jammern im Zimmer der Kleinen. Dann wurde die Tür von Dols Zimmer aufgestoßen, und sie kam gähnend auf den Flur. Ihr Oberkörper war nackt, und auf ihrer weißen Haut, zwischen den von der Milch angeschwollenen Brüsten, zeichnete sich ein dicker, daunenschwarzer Streifen ab, der geradewegs aus ihrer Hose kam und sich auf dem Bauchnabel verbreiterte.
Als sie Lara sah, glaubte sie, das Mädchen sei aufgestanden, weil auch sie das Weinen gehört hatte.
»Geh schlafen, Kleine«, sagte sie. »Das hier ist meine Arbeit.« Statt verstimmt zu sein, dass sie geweckt worden war, lächelte Dol glückselig, wie jedes Mal, wenn sie sich mit den Kleinen beschäftigte.
»Wie spät ist es?«, fragte Lara.
»Ich weiß es nicht, aber es ist noch Nacht, also geh schlafen. Morgen musst du in die Schule, und abends hast du deinen Kurs an der Akademie.«
»Wann ist Tarr aufgebrochen?«
»Tarr? Ach ja, stimmt, er hat mir gesagt, dass er fort wollte ... Ich komme ja schon, ich komme ja schon!« Sie stürzte in das Zimmer, wo aus dem Weinen mittlerweile ein Schreikonzert geworden war.
Lara schüttelte den Kopf. Bis jetzt hatte sie ihr ganzes Leben mit Dol verbracht und hatte sich an deren Art gewöhnt, aber manchmal ging das übertriebene Interesse an den Babys ihr gehörig auf die Nerven.
*
Drei Tage später verkündete der Professor, kaum dass er in der Klasse war: »Heute ist Prüfung!«
Die Schüler hatten damit gerechnet, dass es den einen oder anderen Tag so weit sein würde, trotzdem traf es sie wie ein Blitz aus heiterem Himmel.
»Heute morgen«, fügte der Professor hinzu. »Physik in Raum A.«
Er las die Namen von einer Liste vor, darunter auch Laras. Umso besser, sagte sie sich, dann habe ich es sofort hinter mir. In Physik war sie nicht so gut, es war zu viel Mathe dabei.
Der Professor nannte weitere Fächer und die Namen der Prüflinge für den heutigen Tag und den Tag darauf. Als er fertig war, eilten alle in die entsprechenden Räume. Lara blieb zurück, verneigte sich vor dem Professor und bat um die Erlaubnis, sich zu Wort melden zu dürfen.
»Was ist denn?«, fragte er und hob die Brauen. Er war ein Shiro mittleren Alters, dessen Haare sich bereits weiß färbten. Zwei tiefe Falten hatten sich von der Nase bis zu den Mundwinkeln in sein Gesicht gegraben. Man sagte von ihm, er sei einst ein berühmter Fechter gewesen. Sollte das stimmen, wäre das einzige Prinzip, das er in der Akademie übernommen hatte, die Liebe zu eiserner Disziplin, die absoluten Respekt verlangte.
»Bitte entschuldige, Shiro Adaï«, sagte Lara höflich, denn der Professor erlaubte es nicht, dass man ihn mit seinem Namen ansprach. »Ich habe meine Vorladung für die Anatomieprüfung gar nicht gehört.«
»Du hast nicht gehört? Was willst du damit sagen? Kannst du nicht zuhören, wenn ich rede?«
»Doch, Herr, aber du hast meinen Namen nicht vorgelesen.«
»Willst du mir etwa sagen, ich hätte mich geirrt?«
Das war eine Fangfrage. Der Meister tätschelte geistesabwesend seine Gerte, während er sprach. Lara schluckte, denn sie hatte bereits Erfahrung mit seiner Schlagkraft gemacht.
»Mein Name wurde nicht genannt, Shiro Adaï«, entgegnete sie mit fester Stimme.
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