Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
kam einer aus der Gruppe, meist Rin, der Läufer, um sie für einen einstündigen Langlauf zu wecken, der über die Hauptstraße Gaias führte, die dem Hauptkanal folgte, bis Lara keuchend zusammenbrach und ihre Beinmuskeln völlig verkrampft waren. Jedes Mal ließ Rin sie einen Moment ausruhen; dann befahl er ihr: »Steh auf!«
Falls sein Opfer protestierte, fügte er hinzu: »Wenn du auf der Flucht vor einem Fleischfresser bist, einer Wildkatze zum Beispiel, setzt du dich dann auch auf den Boden und bittest sie um eine Pause von zehn Minuten? Also los, steh auf. Wir müssen weiter. Keiner von uns kann sich erlauben, auf dich zu warten.«
Mit Rico trainierte Lara Fechten, und den Kampf ohne Waffen übte sie mit Saïda. Obwohl er genauso alt war wie sie und kaum größer, wog er mindestens zehn Kilo mehr, doch diese zehn Kilo waren reine Muskelmasse. Der Kampf mit Saïda dauerte nie länger als ein paar Sekunden, dann fand Lara sich auf dem Boden wieder, bewegungslos in seinem harten Griff.
»Das lohnt sich nicht«, keuchte sie, als sie sich zum x-ten Mal mühsam erhob. »Ich werde nie gegen dich gewinnen, in hundert Jahren nicht. Wozu also soll das Ganze gut sein? Im Dschungel hat man nicht oft Gelegenheit, sich im Kampf zu messen. Und selbst wenn, wird es das erste und letzte Mal sein. Alles, was dort lebt, ist viel größer oder wilder als du und ich. Da ist es das Beste, schnellstmöglich die Flucht zu ergreifen.«
»Wir machen diese Übungen«, erwiderte Saïda, »um deine Reflexe und dein Reaktionsvermögen zu verbessern. Außerdem machst du Fortschritte. Mittlerweile leistest du schon eine Minute Widerstand.«
Die Trockenzeit auf Ta-Shima war normalerweise gleichbedeutend mit Ferienzeit. Aber in diesem Jahr galt das nicht. Jede Nacht wurde fieberhaft trainiert: Laufen, Springen, Klettern, Kämpfen, Messerwerfen, noch einmal Laufen und möglichst immer schneller, noch höher springen, noch schneller reagieren. Während der ersten Wochen gewöhnte Lara sich außerdem daran, lange Zeit ohne Essen und Trinken auszukommen und nicht zu schlafen. Doch als sich das Ende der Trockenzeit abzeichnete, konnte Lara die anderen davon überzeugen, dass es besser sei, wieder ausreichend zu schlafen und zu essen. Nun ging es darum, in Bestform zu bleiben. Falls die Prüfungen in einer Zeit des Fastens begannen, wären sie geschwächt und den harten und unbekannten Aufgaben, die sie erwarteten, noch weniger gewachsen.
In ihrer knapp bemessenen Ruhezeit, die sie ebenfalls gemeinsam verbrachten, versuchten sie sich vorzustellen, wie die Prüfungen ablaufen würden. Das Problem war nur: Niemand, der die Prüfung bestanden hatte, durfte darüber sprechen. Deshalb wussten sie kaum etwas darüber und konnten allenfalls Vermutungen anstellen. Sie wussten allerdings, dass sie in einem Boot vonder Schiffsbrücke des Hauptkanals aufbrechen würden; so war es auch in den Jahren zuvor gewesen. Da hatten sie zugeschaut, wie die Jungen aus den höheren Klassen in die großen Segelboote gestiegen waren. Außerdem wussten sie, dass sie zu Fuß aus dem Westen zurückkommen würden. Im Westen aber gab es nur die Hügel und das Sumpfgebiet von Sovesta; es lag zwischen der vertrauten Welt der Hochebene und der riesigen Wildnis des Kontinents, die bedeckt war mit einem schier endlosen Wald, in dem hunderte verschiedener Arten wilder Raubtiere lebten. Angeblich hausten dort auch Ungeheuer, die nie jemand zu Gesicht bekommen hatte; genauer gesagt: Keiner von denen, die diese Monster gesehen hatte, war jemals zurückgekommen.
»So schlimm wird es nicht sein«, meinte Rin, »denn fast alle bestehen die Volljährigkeitsprüfungen. Das kann doch nur bedeuten, dass die Gefahr dort gar nicht so groß ist.«
»Und wenn wir mit dem Boot fahren«, warf Saïda ein, »heißt das doch, dass wir am Flussufer bleiben. Auch die ersten Erforscher sind durch den Corosaï-no-goï und seine Nebenflüsse gefahren. Und sie sind in kleinen Gruppen gereist. Am Fluss ist es bestimmt nicht so gefährlich.«
»In der Bibliothek habe ich etwas Interessantes gelesen ...«, begann Lara und hielt inne, um abzuwarten, ob die anderen ihr zuhören oder sich über sie lustig machen wollten, wie ihre Klassenkameraden es normalerweise taten. Aber ihre neuen Freunde schauten sie mit aufrichtigem Interesse an, sodass Lara fortfuhr:
»Ich habe gelesen, dass der Dschungel sehr dicht ist, vor allem unweit der Wasserläufe. Aber um trinken zu können, müssen die größten Tiere
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