Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
bahnen, um zu ihm zu gehen.
Plötzlich wurde es still. Lara erkannte, dass der Lehrer Midori eingetroffen war. Er war ein Mann fortgeschrittenen Alters, aber noch agil und sehr mager, mit graumeliertem Haar und Gesichtszügen, die wie eingemeißelt wirkten. Man sagte ihm nach, er sei noch in der Lage, jeden seiner Schüler in sämtlichen Disziplinen zu schlagen.
Doran Huang kam näher. Sie grüßte Midori mit einer tiefen Verbeugung. Der Lehrer grüßte zurück, indem er sich noch ein wenig tiefer verbeugte. Dann ging er in den Fechtsaal, in dem man bereits die Grenzen markiert hatte, die nicht überschritten werden durften. Sein Raubvogelblick schweifte in die Runde.
Zwei Shiro, bereits maskiert, traten hervor. Nachdem sie ihre Tunika ausgezogen hatten, sah Lara, dass einer von ihnen eine Frau war.
»Einer von euch hat darum gebeten, die Kampfwaffen verwenden zu dürfen.«
Die Frau hob als Zeichen der Zustimmung die Hand.
»Gibt es irgendwelche Einwände?«
Selbstverständlich gab es keine. Midori, Doran Huang und zwei weitere Shiro, die der Lehrer ausgesucht hatte, bewaffneten sich und nahmen an den vier Seiten des abgesteckten Kampfbereichs Platz. Sie mussten die Kämpfenden daran hindern, diesen Bereich zu verlassen, indem sie ihren Säbel auf denjenigen richteten, der einen Schritt außerhalb der markierten Linien machte und damit auf dem Boden stand, der mit weißem Sand des Flusses bedeckt war.
Die Duellanten nahmen ihre persönlichen Waffen von der Wand. Lara sah, dass sie sich für den Degen entschieden hatten: Mit seiner geraden Klinge, die dünner und leichter war, ließ diese Waffe sich mit einer Hand führen. In der anderen Hand konnte man zusätzlich ein Messer halten, einen anderen Degen – oder gar nichts. Die Duellanten wählten letztere Option; die zweite Hand blieb leer. Das bedeutete, dass tödliche Schläge erlaubt waren, sofern sie korrekt ausgeführt wurden.
Gern wäre Lara gegangen, hätte sie gekonnt, ohne Gefahr zu laufen, der Feigheit bezichtigt zu werden. An diesem Abend würde Blut fließen ... vielleicht stimmte es wirklich, dass sie, die mit Asix aufgewachsen war, nicht die Mentalität der Shiro besaß. Überdies hatten die Schulungen und ihre Tätigkeit im Lebenshaus dazu beigetragen, dass sie echte Waffen hasste. Sie brachte es nicht fertig, ein solches Duell als eine Art Schauspiel zu sehen. Da sie oft geholfen hatte, Wunden zusammenzunähen, die eine Waffe geschlagen hatte, wusste sie um die Schäden, die eine scharfe Klinge bewirken konnte. Dennoch konnte sie jetzt unmöglich gehen. Denn dann würde es Vorwürfe hageln und man würde sie wieder als eine halbe Asix bezeichnen. So war sie hinter ihrem Rücken bereits häufig genannt worden. Lara blieb also, wo sie war, in der Hoffnung, dass der Kampf schnell vorbei sein würde und ohne schwere Verletzungen vonstatten ging.
Der Lehrer hob die freie Hand und begann mit dem Ritual: »Fangt an!«
Die Gegner näherten sich vorsichtig einander. Der Mann griff als Erster an, doch die Frau wehrte die Attacke mühelos ab. Sie waren gleich gut; der Mann war etwas kräftiger und parierte die Scheinangriffe mit Schlägen der leeren Hand, während sein Degen Stöße ausführte. Die Frau war agiler und schien die Bewegungen ihres Gegners vorauszuahnen.
Nach einigen Minuten hatten beide ein paar leichtere Blessuren. Midori unterbrach den Kampf und fragte: »Es wurde Blut vergossen. Erklärt der Beleidigte, dass seine Ehre wiederhergestellt ist?«
»Nein, Herr«, erwiderte der Mann, und auf ein Zeichen des Lehrers hin wurde der Kampf fortgesetzt.
Dann ging alles so schnell, dass Lara nicht sicher war, ob sie es richtig gesehen hatte. Der Mann hatte den Degen seiner Gegnerin mit der eigenen Klinge abgelenkt und profitierte von seiner besseren Angriffsbewegung: Er hatte einen Sprung nach vorn gemacht, um die Frau im Gesicht zu treffen. Ein Schlag mit der flachen Hand traf ihre Nase. Es war ein Hieb, der tödlich hätte sein können, da der Mann ihn kraftvoll von unten nach oben geführthatte. Dabei konnte es geschehen, dass die Nasenscheidewand ins Hirn getrieben wurde.
Die Frau, die mit einer heftigen Bewegung zurückwich, fing die Arme ihres Gegners mit der Waffe ab und verletzte ihn dabei. Obwohl die Wunde nicht allzu tief zu sein schien, spritzte das Blut wie aus einem Springbrunnen.
Er hat sich die Speichenarterie durchtrennt!, schoss es Lara durch den Kopf. Sie wartete darauf, dass einer der Erwachsenen einschritt, um dem
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