Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
kommt, dass man seine Beute viel schneller am Flussufer bekommt. Außerdem haben wir ein Messer verloren.«
»Wenigstens haben wir Rin nicht verloren!«
»Rico, ich stehe in deiner Schuld.«
»Ich habe nur einen Teil meiner Schuld beglichen«, erwiderte Rico. »Wie viele Kilometer hast du mich auf den Schultern getragen?«
»Lasst uns weitergehen«, drängte Lara. »Wir halten jetzt erst wieder an, wenn uns nur noch ein kleines Stück von Sovesta trennt. Dort können wir versuchen, Fisch zu fangen.«
»Und ihn roh essen? Nein, danke!«
»Von hier bis dort dauert es zwei Tage. Dann wirst du nicht mehr so wählerisch sein.«
»In der Schule haben wir Wochen damit zugebracht, die Namen und Eigenschaften der essbaren Pflanzen zu lernen. Wie kommt es, dass wir bis jetzt nur zwei essbare Daïban-Pflanzen gefunden haben?«
»Weil sie in der Nähe von Wasser wachsen. Wenn wir andere essbare Pflanzen suchen wollen, müssen wir ins Unterholz. Und dafür bräuchten wir wenigstens eine Axt, um uns einen Weg freizuschlagen, sonst würden unsere Messer stumpf. Es zählt jetzt vor allem, dass wir so schnell wie möglich vorankommen. Außerdem ist nach ein paar Tagen Fasten noch niemand verhungert.«
In der Tat war der Hunger nicht das wesentliche Problem, denn man konnte ganz gut eine Woche ohne Nahrung leben. Der Durst jedoch war eine unerträgliche Qual, vor allem, wenn sie von Weitem einen der großen Baumfarne entdeckten. Doch es hätte eine gute Stunde gedauert, um sich einen Pfad dorthin zu bahnen, um so an das kostbare Reservoir des Trinkwassers zu gelangen, das sich im Fuß der Pflanze befand.
Bis nach Sovesta brauchten sie noch drei Tage und nicht zwei, wie sie insgeheim gehofft hatten.
Es war früh am Morgen. Sie hatten erst wenige Kilometer zurückgelegt, als Saïda, der mit Rico auf den Schultern vorneweg ging, plötzlich stehen blieb. Er streckte warnend einen Arm in die Höhe; dann wandte er sich seinen Kameraden zu, die ihm fragende Blicke zuwarfen, denn es war kein Geräusch zu hören und nichts Bedrohliches zu sehen.
Saïda legte einen Finger auf die Lippen; dann führte er ihn an die Nase. Lara sah ihn bestürzt an. Warum forderte er absolute Ruhe ein?
Plötzlich erkannte sie, was Saïda ihnen verständlich zu machen versuchte: Die Stille war so intensiv, dass man hätte glauben können, alle Tiere, ob groß oder klein, hätten sich versteckt und verharrten in völlige Ruhe. Es dauerte nicht lange, da wusste sie, warum Saïda seine Nase berührt hatte: Der Hauch eines ekelhaften Geruchs erreichte sie, ein Geruch, der noch viel widerlicher war als der Gestank der verwesenden Pflanzen, der den ganzen Dschungel durchdrang. Es roch wie die Karren der Burs, mit denen die Leichen von Menschen und Tieren eingesammelt wurden, die man dann in Stücke schnitt und den Schäferhunden als Nahrung hinwarf.
Langsam und vorsichtig lud Saïda Rico von seinen Schultern; dann ließ er sich langsam zu Boden gleiten und kroch bis zu der Mauer aus Pflanzen, die sich rechter Hand erhob. Die anderen machten es ihm nach und verharrten dann. Kein Windhauch bewegte ein Blatt oder kräuselte die Wasseroberfläche. Das Gefühl einer drohenden Gefahr war so intensiv, dass ihnen die Haare zu Berge standen.
Lara hatte stets geglaubt, dass schnelles Laufen und Springen der beschwerlichste Teil der Vorbereitungen auf die Volljährigkeitsprüfungen war. Hätte man sie danach gefragt, hätte sie geantwortet, dass stilles Verharren an einer Stelle die wohl leichteste Übung der Welt sei. Aber seit mindestens einer Stunde hatte sie das Gefühl, dass es an ihrem ganzen Körper juckte. Nur mit aller Mühe konnte sie sich dem Drang widersetzen, sich zu kratzen oder eines ihrer Beine zu bewegen, die furchtbar kribbelten. Auchhatte sie das Gefühl, niesen zu müssen und den Wunsch, ihren Körper zu dehnen.
Im Wald war es so still, als wäre er unbewohnt. Die fünf Gefährten verhielten sich vollkommen ruhig, wagten kaum zu atmen. Langsam lichtete sich der Morgennebel. Etwa zwanzig Meter entfernt konnte man jetzt innerhalb der Vegetation eine Art Tunnel erkennen. Es war einer der Tierpfade, über die Lara einmal etwas gelesen hatte. Aber es war kein einziges Tier zu sehen, das sich dem Wasser näherte. Der Geruch des Fleischfressers, der auf der Lauer lag, musste auch seinen potenziellen Opfern in die Nase gestiegen sein.
Die Stunden vergingen nur langsam. Es war die Hölle. Erst als die Schatten dichter wurden und es im Unterholz genauso
Weitere Kostenlose Bücher