Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
machten sie sich Mut, um der Versuchung widerstehen zu können, das tote, übelriechende Wasser zu trinken, das sie umgab. Aber ihre Zungen waren trocken wie ein Stück Holz und klebten so sehr am Gaumen fest, dass sie kaum noch sprechen konnten. Und sie waren so schmutzig, als hätten sie sich nie im Leben gewaschen.
Seit mehreren Stunden bereits war die Sonne untergegangen, und in der Ferne, auf dem nächstgelegenen Hügel, sahen sie in dieser hellen Nacht der drei Monde schon von Weitem den Pavillon der Volljährigkeit.
Sie hatten die Prüfungen bestanden!
Sie sprachen sich ab, sich nicht sofort zum Pavillon zu begeben, wo Speisen, Kleidung und eine bequeme Matte auf sie warteten. Stattdessen gingen sie weiter nach Norden. Dort befand sich eines der großen Wasser-Sammelbecken, aus denen während der Trockenzeit die Obstplantagen gewässert wurden. Der Wasserstand war auf ein Minimum gesunken, und die durch Windkraft angetriebenen Pumpen schafften es kaum, einen dünnen Wasserstrahl in die dafür vorgesehenen Kanäle zu befördern. Die Jugendlichen stiegen die kleine Leiter – Pfähle, die an der Innenwand des Beckens befestigt waren – hinunter und fanden dort schließlich sauberes Wasser vor. Sie sprangen hinein, um ihren Durst zu stillen; dann tauchten sie vollständig unter und spülten den überriechenden Schlamm ab, der auf ihrer Haut und in ihrem Haar eine Kruste gebildet hatte.
Dann gönnten sie sich einige Minuten Ruhe. Es war die erste Pause seit Langem, in der sie sich wirklich entspannen konnten und nicht ununterbrochen über die Schulter schauen mussten. Saïda hob die Hand, um flüchtig das Haar Ricos zu berühren, und stellte fest:
»Heute ist eine Nacht der drei Monde.«
»Schade, dass wir nichts davon haben«, sagte Rico bedauernd, »aber vor uns liegt mindestens noch vier Stunden Weg, bis wir am Pavillon sind. Und auf den Hügeln wächst nichts, was höher wäre als unsere Knie. Es ist unmöglich, Schutz zu finden, wenn die Sonne aufgeht und wir noch unterwegs sind.«
Saïda seufzte, zog seine Hand zurück und ging zur Leiter. Die anderen folgten ihm. Für Rico war es nicht leicht, die Leiter hinaufzukommen, aber mit Hilfe Saïdas, der sie zog, und Mauros, der sie schob, schafften sie es schließlich.
Sie trafen gerade rechtzeitig am Pavillon an. Die Morgenröte ließ den Himmel schon weiß werden.
»Lass mich herunter«, bat Rico ein paar Schritte vor der Tür.
Lara, die sie auf ihren Schultern trug, hielt an, um Rico die Möglichkeit zu geben, auf eigenen Füßen den Pavillon zu betreten. Sie hätte ihr gern auf den letzten Metern geholfen, aber Rico schüttelte den Kopf. Auf einen großen Stock gestützt, schritt sie allein über die Schwelle, aufrecht und stolz.
Während die Jugendlichen mit lauter Stimme den Namen ihresjeweiligen Clans aussprachen, schritt einer nach dem anderen in die große Halle, wo eine Gruppe Erwachsener sie bereits erwartete.
»Shiro Adaï«, sagte eine freundliche Stimme, »hattet ihr eine gute Reise?«
Es dauerte einen Augenblick, bis die Gefährten begriffen, dass sie mit diesem ehrenhaften Titel angesprochen wurden. Sie hatten es geschafft. Von nun an waren sie Vollmitglieder der Gesellschaft.
Sie verbeugten sich, und Rico antwortete: »Danke, ausgezeichnet.«
»Gab es Probleme?«, fragte eine andere Stimme. Die jungen Leute sahen, dass auf der Matte die Saz-Adaï des Gaia-Clans Platz genommen hatten.
Mit einem noch tieferen Knicks als zuvor antworteten sie im Chor:
»Es gab keine Probleme, allverehrte Mütter.«
»Hat einer von euch Durst? Seid ihr müde?«
Der kleine Tisch vor den ehrwürdigen Damen trug drei Platten, die mit köstlichen Gemüsetartes gefüllt waren, einer gastronomischen Spezialität Gaias.
Auch wenn Lara nach acht Tagen Fasten, in denen sie nur ein paar Daïbanblätter und eine Handvoll roher Mollusken zu sich genommen hatte, das Wasser im Mund zusammenlief, entgegnete sie im Namen aller mit fester Stimme:
»Weder hungrig noch durstig, danke für eure Aufmerksamkeit.«
Die überaus betagte Matriarchin Jestak aus dem Saïda-Clan betrachtete Ricos Bein. Nachdem sie den Schlamm abgewaschen hatte, war die Verletzung zu sehen, die sich entzündet hatte. Die Wunde eiterte, und unter der gespannten Haut zeigte sie eine schwärzliche Farbe.
»Lass mich dein Bein ansehen.«
Hinkend trat Rico vor. Nachdem die Jestak sich die Wunde angeschaut hatte, fragte sie stirnrunzelnd:
»Was war das? Der Stich einer giftigen Pflanze in
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