Das Gesetz von Ta-Shima: Roman (German Edition)
Strömungen nicht zu stark wurden.
Stundenlang marschierten sie, bis zu den Waden im Schlamm, durch die trostlose, gleichförmige Landschaft, in der man sich an den Sternen orientieren musste, um den richtigen Weg zu finden. Der Morast am Flussufer war zwar übelriechend, aber nichts gegen den Gestank des Sumpflandes, wo Wasserpflanzen ein wirres Geflecht bildeten, in dem abgestorbene Pflanzen und tote Tiere hängen blieben, bis sie vollständig verwest waren.
Die Jugendlichen versuchten, ihren Kurs beizubehalten, doch es kam immer wieder vor, dass sie auf einen tieferen Kanal stießen oder auf ein Vegetationsnetz, das besonders dicht war und das sie umlaufen mussten. Auf diese Weise verloren sie kostbare Zeit.
Als der Himmel sich aufhellte, zogen sie sich zwischen die Wasserpflanzen zurück, um sich vor dem Sonnenlicht zu schützen. Zusätzlichen Schutz vor der Sonnenglut verschafften sie sich, indem sie große, wallende Blätter abschnitten und daraus eine Art Schirm errichteten. Außerdem sammelten sie händeweise stinkenden Schlamm, mit dem sie Körper und Gesicht einrieben.
Wieder hielt einer von ihnen Wache, obwohl sich in der Trockenzeit das Leben der Sumpftiere hauptsächlich in der Nacht abspielte, während die anderen versuchten, sich auszuruhen. Allerdings hatten sie wenig Hoffnung, auf dem schwankenden Grund und auf einem Haufen durchnässter Pflanzen Schlaf zu finden.
»Pech gehabt«, meinte Rico, die an diesem ersten Tag wieder alle Wachen übernehmen wollte, um sich nützlich zu machen.
Dann begann die Tide mit einem Mal zu sinken. Zuerst sahen sie nur Blätter und Zweige, die an ihrem Zufluchtsort entlangglitten. Dann trieben sie nach und nach ab, immer schneller, bis schließlich die gesamte, auf dem Wasser schwimmende Insel, auf der sie sich befanden, dem Wasserlauf folgte und davontrieb.
»Hoffen wir, dass wir uns nicht auf einem Hauptwasserarm befinden«, bemerkte Mauro. »Dann driften wir zu weit ab, und unser Rückweg verlängert sich noch einmal.«
»Wenigstens enden wir dann im Meer.« Rin war Pessimist.
»Ich glaube nicht. Die Insel besteht aus ausgewachsenen Pflanzen, die mindestens zwei Jahre alt sind. Das bedeutet, dass sie sich mit den Gezeiten fortbewegen, allerdings spricht nichts dafür, dass sie das Sumpfgebiet verlassen«, antwortete Saïda ruhig.
Er verschwieg allerdings, dass der Durst – würden sie zu weit abtreiben und ihr Weg sich dadurch um einen ganzen Tag verlängern – sie so peinigen würde, dass sie das faulige Wasser schließlich doch trinken würden. Und was das bedeutete, wussten sie. Mit großer Wahrscheinlichkeit würden sie sich eine Vergiftung zuziehen oder so viele Halluzinogene aufnehmen, dass es sie geradewegs in das Maul des ersten wilden Tieres beförderte, auf das sie trafen.
Nachdem sie ein paar hundert Meter weit getrieben war, strandete die schwimmende Insel glücklicherweise auf einer Sandbank, und der Rest des Tages plätscherte ruhig dahin. Nach den Abenteuern im Dschungel erschien es ihnen hier beinahe erholsam.
Ein einziges Mal – in der zweiten Nacht – hatten sie eine erneute Begegnung mit einem Alligator. Doch dieses Mal war es ein kleines, bereits verwundetes Tier. Einer seiner Fangarme war sauber durchtrennt; aus der Wunde floss gelbliches Blut.
»Er hat Angst vor uns. Er wird durch seine Verwundung geschwächt sein«, sagte Saïda zu Mauro, der das Tier mit sorgenvoller Miene betrachtete.
»Dann frage ich mich«, sagte er ängstlich, »wer den Fangarm so säuberlich durchtrennt hat, wo er doch hart wie Holz ist. Und das macht mir Angst.«
Dass Mauro so offen über seine Furcht sprechen konnte, zeigte, wie vertraut man einander in den vergangenen Tagen geworden war. Im Übrigen kannten die Shiro einen speziellen Begriff für die Beziehung derjenigen, die gemeinsam die Volljährigkeitsprüfungen absolviert hatten: »Sei-Hey«, Brüder des Lebens. Aus Spaß sagten einige auch »Si-Hey«, Brüder des Todes. Das Band zwischen ihnen war viel stärker als dasjenige, das die Mitglieder eines Clans miteinander verband.
»Offenbar versucht das Tier, im Sumpf Zuflucht zu finden. Wahrscheinlich ist es auf der Flucht vor einem Verfolger, womöglich ein Raubtier, das zu groß ist, um sich in den Kanälen fortzubewegen, die Sovesta durchziehen. Ich glaube, wir haben nichts zu befürchten.«
Nach drei Tagen kamen sie endlich aus dem Sumpfland heraus. Sie waren müde und ausgehungert, vor allem aber litten sie quälenden Durst. Abwechselnd
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