Das Gesicht der Anderen
waren gleich. Das war ihm sofort aufgefallen, schon bei seiner ersten Begegnung mit Tessa. Aber ihre Nase war kleiner, sie hatte etwas höhere Wangenknochen und ein runderes Kinn. Auch ihr Mund war anders, nicht so voll wie Amys. Erinnerungen an Amy kamen ihm in den Sinn. Amy mit siebzehn.
Er musste an das Porträt denken, das über dem Kamin in der Bibliothek hing – Tessa Westbrook vor ihren kosmetischen Operationen. Die Tessa, die jetzt hier neben ihrer Tochter im Bett lag, hatte keine große Ähnlichkeit mehr mit der alten Tessa. Und schlagartig wurde Dante klar, wem die Frau, die er als Tessa kannte, wirklich ähnlich sah – sie war wie eine Mischung aus Amy Smith und der alten Tessa Westbrook.
Ihm wurde eng in der Brust, sein Puls begann zu rasen. Dante breitete die Decke über Mutter und Tochter. Sein Blick fiel auf Leslie Anne, die genauso aussah wie der Teenager Amy, den er als junger Mann geliebt und verloren hatte. Sie war ein wunderschönes Kind. Amys Kind?
Da hast du deinen Beweis, dachte er. Denn man konnte nicht übersehen, dass Leslie Anne die Tochter von Amy Smith war.
Amy. Meine süße, liebe Amy.
Tränen verschleierten Dantes Blick. Wie schön wäre es, sie jetzt zu wecken und ihr zu sagen, wer sie wirklich war. Endlich hatte er seine Amy wieder. Und doch war sie nicht seine Amy. Sie erinnerte sich nicht an ihn und ihre Liebe – und würde es auch nie tun. Ihr schweres Schädel-Hirn-Trauma hatte ihre Erinnerung an die Zeit vor dem Überfall für alle Zeiten ausgelöscht.
Aber diese Frau mag mich auch, sagte sich Dante. Vielleicht liebt sie mich sogar. Wir fühlen uns jedenfalls instinktiv zueinander hingezogen, ohne genau zu wissen warum. Auch wenn wir einander nicht erkannt haben, unsere Seelen haben die Verbindung zwischen uns bemerkt.
Leslie Anne stöhnte und wälzte sich im Schlaf herum. Sie legte den Arm um ihre Mutter. Dante spürte sein Herz bis zum Hals klopfen. Das war Amys Tochter.
Sie könnte meine Tochter sein!
Aber sie war es nicht, sosehr er sich das auch wünschte. Er war als Teenager sehr vorsichtig gewesen, hatte nichts riskiert, wenn sie miteinander geschlafen hatten. Er war voller Liebe und Respekt für Amy gewesen und hatte sie nicht unglücklich machen wollen. Sie hatten zuerst heiraten und dann erst Kinder bekommen wollen. Also hatten sie immer Kondome benutzt. Aber vielleicht …
Tu dir das nicht an! Denk es nicht einmal!
Aber Kondome waren nicht immer absolut sicher. Es kam vor, dass sie nicht ganz dicht waren. Aber das war wirklich nur Wunschdenken von ihm. Er konnte doch nicht im Ernst annehmen, dass Leslie Anne seine Tochter war! Dann hätte er doch sicher automatisch irgendein väterliches Gefühl für sie empfunden?
Aber vielleicht hatte er das ja. Schließlich hatte er sich nicht von ihr abgewandt, als es hieß, sie sei Eddie Jay Nealys Tochter. Bei der gesamten Vorgeschichte hätte er das Kind eigentlich verabscheuen müssen – aber das tat er nicht.
Du bewegst dich auf dünnem Eis. Sei doch einfach glücklich, dass Amy noch lebt. Hör auf, noch mehr zu wollen! Wenn der Preis, den du für dieses Wunder zahlen sollst, darin besteht, Leslie Anne zu akzeptieren, obwohl Eddie Jay Nealy ihr biologischer Vater war, dann sei dankbar und liebe Amys Kind, als wäre es dein eigenes!
Dante warf einen letzten Blick auf die schlafende Mutter und ihre Tochter, dann drehte er sich um und verließ das Zimmer. Morgen würde er G. W. mit seinen Vermutungen konfrontieren. Und dann würde er Tessa sagen, dass Amy Smith noch am Leben ist.
21. KAPITEL
D ante wachte abrupt auf, als er ein Klopfen an seiner Tür vernahm. Er erinnerte sich nur noch daran, dass er die Schuhe ausgezogen und sich, ansonsten voll bekleidet, aufs Bett gelegt hatte. Jetzt setzte er sich auf, rieb sich das Gesicht und sprang dann auf, um die Tür zu öffnen. Irgendwie hatte er sich wohl beim Schlafen verrenkt, denn Schultern und Nacken schmerzten. Er öffnete die Tür mit einer Hand, mit der anderen rieb er seinen verspannten Nacken.
“Guten Morgen!” Draußen stand Lucie, lächelnd, mit einer Tasse Kaffee in der Hand. “Da, für dich”, sagte sie und drückte ihm die Tasse in die Hand.
“Wie spät ist es?” Dante sah auf die Uhr. Zwanzig nach sechs. Er nahm Lucie den Kaffee ab und bedeutete ihr hereinzukommen.
“Gut geschlafen?”, wollte sie wissen.
Dante schloss die Tür mit einem Fußtritt. “Ja, ganze zwei Stunden.” Er ließ sich auf der Bettkante nieder und hob den Kaffee an die
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