Das Gesicht der Anderen
Gesicht. “Es war eine schreckliche Zeit für uns, aber wir waren so dankbar, dass Tessa überhaupt noch am Leben war, dass alles andere keine Rolle spielte.”
“Hatte man damals schon Mrs. Westbrook die Diagnose über ihre unheilbare Krebserkrankung gestellt?”
Auch diese Frage stellte Lucie, nicht Dante. War er stumm geworden? Er wünschte, dieses Rauschen in seinem Schädel würde aufhören, damit er wieder klar denken konnte.
“Ja, Anne wusste, dass sie sterben würde. Aber sie kämpfte bis zum Schluss, denn sie wollte G. W. und Tessa nicht allein lassen. Ich glaube, es war Leslie Anne, die Anne so lange am Leben hielt. Sie überlebte die Prognose der Ärzte um fast zwei Jahre.”
“Vielen Dank”, sagte Lucie.
Sharon richtete ihren Blick auf die Agentin, ganz offensichtlich irritiert, aber sie nickte einfach und verließ den Raum.
“Ihr beide übernehmt die erste Schicht”, sagte Lucie zu Dom und Vic. “Ich glaube, Dante braucht etwas Ruhe.” Sie ging zu ihm hinüber, hakte sich bei ihm unter und sagte: “Komm mit, wir statten Tessa und Leslie Anne einen Besuch ab, bevor wir uns schlafen legen.”
Als sie durch den Gang Richtung Foyer gingen, fand Dante seine Worte wieder. “G. W. hätte alles dafür getan, dass seine Frau nichts vom Tod ihrer Tochter erfuhr.”
“Ja, das glaube ich auch”, pflichtete Lucie ihm bei. “Vielleicht hat er sogar Amy Smith, die aufgrund der brutalen Attacke unter Amnesie litt, als seine Tochter ausgegeben, als er erfuhr, dass die echte Tessa Westbrook tot war. Und er konnte seine Frau nur dadurch überrumpeln, dass er Amys Gesicht operieren ließ. Die beiden Frauen hatten in etwa dieselbe Körpergröße, dieselbe Statur und dieselbe Augen- und Haarfarbe.”
Dante blieb stehen. Ihm war plötzlich ganz übel. “Entweder sind wir jetzt beide verrückt, oder es besteht tatsächlich die Möglichkeit, dass die Frau oben bei Leslie Anne nicht Tessa Westbrook ist.”
“Da hast du recht”, sagte Lucie. “Und wenn sie nicht Tessa ist, dann kann es genauso gut sein, dass sie Amy Smith ist.”
20. KAPITEL
L eslie Anne kuschelte sich an ihre Mutter, die sich zu ihr auf ihr Himmelbett gesetzt hatte. Augenblicke wie dieser gehörten zu ihren liebsten Kindheitserinnerungen. Als sie noch klein gewesen war, hatte ihre Mutter ihr jeden Abend eine Gutenachtgeschichte vorgelesen und dann so lange bei ihr gesessen, bis sie eingeschlafen war. Und wenn sie einmal schlecht geträumt hatte, durfte sie ins Bett ihrer Mutter kriechen und dort weiterschlafen, oder ihre Mutter blieb bei ihr und schlief auch dort. Jetzt lag sie wieder wie ein kleines Mädchen in den Armen ihrer Mutter, an ihre Schulter gelehnt, und Leslie Anne fühlte sich geborgen und geliebt. Das Wissen, dass auch Dante da war, beruhigte sie zusätzlich. Er würde so lange bleiben, wie sie ihn brauchte – er war ihr Beschützer.
Komisch, dass sie bis vor Kurzem nie über solche Dinge nachgedacht hatte – geliebt werden, sich sicher und geborgen fühlen. Daran hatte es ihr nie gemangelt – für sie waren das Selbstverständlichkeiten gewesen. Aber das war die Zeit “vor der schrecklichen Wahrheit” – und jetzt war die Zeit “nach der schrecklichen Wahrheit”.
Eigentlich hatte sich ja nichts wirklich geändert, und doch war alles anders. Mama und Großvater und Tante Sharon hatten sie immer noch lieb, und sie selbst war immer noch dasselbe Mädchen wie vorher. Sie hatte dieselbe Nase, dieselben Augen, denselben Mund, dieselben Haare. Ihr Zuhause war wie immer, ihr Zimmer auch. Und trotzdem würde es nie mehr so sein wie früher. Sie verstand allmählich, warum ihre Mutter und ihr Großvater sie all die Jahre belogen hatten – sie konnte es inzwischen fast verstehen. Aber wie sollte sie jemals mit der unerträglichen Tatsache klarkommen, dass dieser Eddie Jay Nealy ihr biologischer Vater war? Und jetzt wusste auch noch ganz Fairport, was Tessa Westbrook damals zugestoßen war und wer ihre Tochter wirklich war. Sie, Leslie Anne, würde für ihr gesamtes Umfeld nicht mehr dieselbe sein. Nie wieder.
Und auch in anderer Hinsicht hatte sich etwas geändert. Es gab Dante Moran. Er war ihr Held. Vermutlich lag es auch daran, dass sie ohne Vater aufgewachsen war und unterbewusst immer nach einer Vaterfigur Ausschau gehalten hatte. In der Zeit, als eine Hochzeit ihrer Mutter mit Charlie möglich erschienen war, hatte sie schon einmal darüber nachgedacht. Sie hätte Charlie als Stiefvater akzeptiert, nur hatte sie
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