Das Gesicht der Anderen
hysterischer Schrei.
Dante legte ihr den Arm um die Schultern und sprach leise weiter. “Die Ärztin hat zumindest gesagt, es gibt keine körperlichen Anzeichen für eine Vergewaltigung, aber um wirklich sicherzugehen, hat sie eine Gynäkologin hinzugebeten. Sie untersucht Leslie Anne im Moment.” Tessa erstarrte. Dante streichelte ihren Rücken. “Leslie Anne hat mir gesagt, dass er sie nicht vergewaltigt hat.”
“Sagen Sie mir, was passiert ist. Ich muss es wissen.”
“Sie hatte sich im Motel Bama einquartiert. Nach dem, was sie mir erzählt hat, hat sich ihr gegenüber ein Mann als Assistant Manager des Hotels ausgegeben und ihr gesagt, sie müsse das Zimmer wechseln. In einem Obstkorb, der in ihrem neuen Zimmer stand, war auch eine Flasche Traubensaft, den sie getrunken hat und der vermutlich mit einem Betäubungsmittel versetzt war.”
“Er hat sie betäubt?”
Hat mein Vergewaltiger das auch mit mir getan? fragte sich Tessa. Hat er mich gekidnappt, unter Drogen gesetzt und mich vergewaltigt?
Einerseits war sie dankbar, dass sie sich nicht an das schreckliche Ereignis erinnerte und es vermutlich auch nie tun würde. Andererseits fragte sie sich, wie sie dem widerlichen Serienmörder in die Hände gefallen war, der seine Opfer folterte und vergewaltigte.
“Als ich ins Zimmer stürmte, war das verdammte Schwein über ihr.” Dante drückte Tessas Schultern fester. “Beide waren nackt, und Leslie Anne völlig wehrlos, weil er sie unter Drogen gesetzt hatte.”
Ein unerträglicher Schmerz durchfuhr Tessa. Er schien ihr noch stärker zu sein als jene Schmerzen, die sie erduldet hatte auf dem langen Weg der Genesung nach ihrem “Unfall”. “Nein! Nein! Nein!” Es gab keinen schlimmeren Schmerz als den, den Eltern für ihr Kind empfinden. Die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind war nun mal bedingungslos.
Tessa wollte am liebsten den Mann zerfleischen, der ihrer Tochter dieses Leid angetan hatte. Sie fühlte sich stark und angriffslustig wie eine Tigermutter.
Plötzlich verstand sie, was sie vorher nie hatte verstehen können: So musste sich ihr Vater damals gefühlt haben, als er sich geschworen hatte, alles daranzusetzen, um den Vergewaltiger seiner Tochter vor Gericht zu bringen, damit er zum Tode verurteilt wurde.
Dante drehte Tessa zu sich herum und nahm sie zum Trost in die Arme. Und sie überließ sich ohne zu zögern seiner Fürsorge. Sie konnte sich nicht erinnern, dass sie je einem Menschen so instinktiv Vertrauen entgegengebracht hatte wie jetzt Dante Moran. Aber warum das so war, wusste sie nicht. Ihr Vertrauen irritierte sie, und seine Attraktivität ließ sie an ihrem Urteilsvermögen zweifeln.
“Wir bringen sie noch heute Abend zurück nach Fairport. Das ist bereits mit der Polizei von Tuscaloosa abgestimmt.” Dante entließ Tessa aus seiner Umarmung, zog ein weißes Taschentuch hervor, hielt ihr Kinn fest und wischte ihr die Tränen aus den Augenwinkeln.
Sie hatte gar nicht gemerkt, dass sie weinte.
Tessa sah Dante dankbar an. Seine Augen waren dunkelbraun, fast schwarz. Sein intensiver Blick machte sie nervös. Sehnsucht. Das war das einzige Wort, das ihr dazu einfiel. Ein Sehnen aus tiefstem Herzen, sexuell, aber auch emotional. Leidenschaft pur. War das, was sie in seinem Blick sah und fühlte, etwas, was nur von Dante ausging, oder empfand er das Gleiche bei ihr?
Tessa zwang sich, den Blick von ihm abzuwenden. Sie räusperte sich, drehte sich um und sah den Gang hinunter zu Zimmer drei. “Mr. Shea hat Lucie und mir erzählt, dass Leslie Anne Sie nicht mehr aus den Augen lassen wollte. Ich möchte mich dafür bedanken, dass Sie meine Tochter nicht nur gerettet haben, sondern auch die ganze Zeit für sie da waren und ihr Geborgenheit gegeben haben.” Denn auch sie selbst fühlte sich geborgen bei Dante. Als könnte er sie vor allem Bösen beschützen.
Dante legte wieder seine Hand auf ihre Schulter. “Sie hat große Angst. Sie wird Sie jetzt mehr brauchen als jemals zuvor.”
“Ich weiß.”
“Ja, das denke ich mir.” Dantes Stimme wurde leiser. Fast flüsterte er. “Das wissen Sie sicher nur zu gut.”
Tessa biss die Zähne zusammen und schluckte. “Ich vermute, sie hat Ihnen nicht gesagt, warum sie von zu Hause weggelaufen ist?”
“Nein, hat sie nicht.”
“Meine größte Angst war immer, dass sie eines Tages die Wahrheit herausfinden könnte.”
“Hatten Sie denn nicht vor, sie ihr zu sagen?”
“Nein.”
Dantes Griff wurde fester. “Meine Mutter
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