Das Gesicht der Anderen
pflegte zu sagen, die Wahrheit kommt immer ans Licht.”
“Wenn Leslie Anne es herausgefunden haben sollte … Ich wüsste nicht, wie. Damals hat Daddy alles in seiner Macht Stehende getan, um die Sache unter Verschluss zu halten. Er … wir haben nicht einmal meiner Mutter gesagt, was wirklich passiert ist.”
“Falls Leslie Anne herausgefunden hat, dass ihr biologischer Vater …”
Tessa wirbelte herum und sah Dante böse an. “Ein unmenschliches Monster, das war er! Wie soll sie jemals mit diesem Wissen umgehen?”
“Mit viel Liebe und Verständnis, die man ihr entgegenbringt. Es wird sicher nicht leicht, sie davon zu überzeugen, dass sie von diesem Mann keine negativen Charakterzüge geerbt hat und sich keine Sorgen machen muss, dass sie eines Tages die Tochter ihres Vaters wird.”
Tessa atmete heftig. Es war ein Schock, ihre eigenen Ängste plötzlich von jemand anderem ausgesprochen zu hören. Natürlich hatte sie sich auch immer wieder die Frage gestellt, ob es wohl möglich war, dass ihre Tochter die kriminelle Ader dieses Mannes geerbt hatte. Aber Leslie Annes sanfte und liebevolle Art hatte diese Bedenken eigentlich zerstreut. Doch wie würde es im Innern ihrer Tochter aussehen? Mit welchen Gedanken quälte sie sich herum?
“Ich liebe meine Tochter mehr als alles andere auf der Welt”, sagte Tessa. “Ich würde alles für sie tun – alles. Ich würde für sie sterben. Können Sie verstehen, wie es ist, einen Menschen so zu lieben?”
“Ja.”
“Haben Sie auch ein Kind? Oder mehrere?”
“Nein.”
“Dann …”
“Es gab vor langer Zeit einmal jemanden.” Dante sprach, als schmerzten ihn allein diese Worte. “Sie war jemand, für den ich gern mein Leben gegeben hätte.”
Ein seltsames Gefühl erfasste Tessa, wie ein sehr langsam einsetzendes Betäubungsmittel, durch das man sich plötzlich leicht und unbeschwert fühlt. Dieser Mann hatte eine Frau so sehr geliebt, dass er sein Leben für sie gegeben hätte – so wie Tessa es für ihr Kind tun würde. Eine so intensive Liebe war stärker als der Tod.
Wahre Liebe stirbt nicht.
Bevor Tessa etwas erwidern konnte, trat eine schlanke brünette Frau in einem weißen Kittel aus Zimmer drei.
“Da ist Dr. Ellison”, sagte Dante.
Tessa eilte den Flur hinunter, Dante folgte ihr. Die Ärztin mittleren Alters wandte sich zu ihnen um und blickte von der Krankenakte auf, die sie in der Hand hielt. Sie sah Dante erwartungsvoll an.
“Dr. Ellison, das ist Tessa Westbrook, Leslie Annes Mutter”, sagte Dante.
Die Ärztin nickte Tessa höflich zu.
“Wie geht es meiner Tochter?”
“Körperlich ist sie unversehrt”, antwortete Dr. Ellison. “Es gibt keinerlei Hinweise auf eine Vergewaltigung, keine Anzeichen für Penetration und keine Hämatome. Aber Leslie Anne hat ein emotional sehr aufreibendes negatives Erlebnis hinter sich. Ich schlage vor, sie sollte mithilfe einer Psychotherapie versuchen, die schlimmen Ereignisse zu verarbeiten. Und natürlich sollte ihre Familie ihr jetzt mit besonders viel Verständnis und Liebe begegnen.”
“Selbstverständlich”, antwortete Tessa. Sie selbst war jahrelang in psychotherapeutischer Behandlung gewesen und wusste um den Nutzen, den professionelle Hilfe brachte, zusätzlich zu Liebe und Trost aus der Familie. “Darf ich jetzt zu ihr?”
“Natürlich. Und dann können Sie sie mit nach Hause nehmen.” Dr. Ellison sah Dante an. “Sie hat nach Ihnen gefragt, Mr. Moran.”
Tessa eilte auf das Krankenzimmer zu, dann zögerte sie. Dante war gleich hinter ihr. Er griff um sie herum und öffnete die Tür. Gerade half die Krankenschwester Leslie Anne beim Anziehen.
Tessa holte tief Luft, dann trat sie ein. “Leslie Anne?”
Ihre Tochter wirbelte herum und sah sie an. Tränen kullerten aus ihren dunkelbraunen Augen. Tessa machte einen zögerlichen Schritt auf sie zu und breitete die Arme aus.
“Meine Kleine …”
“Mama!” Leslie Anne flog ihrer Mutter in die Arme.
“Schon gut.” Tessa streichelte sie liebevoll und flüsterte beruhigend auf sie ein. “Alles in Ordnung. Ich bin da. Du bist in Sicherheit. Oh, meine Kleine. Ich hab dich so lieb.”
Leslie Anne hob den Kopf und sah ihrer Mutter direkt in die Augen. “Wie kannst du mich lieben? Wenn … wenn es stimmt, dass ich …” Sie schluckte die Tränen herunter.
“Schon gut, Kleines, schon gut.” Tessa nahm ihre Tochter fest in den Arm.
“Stimmt es?”, fragte Leslie Anne mit geschlossenen Augen, den Kopf an die Schulter
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