Das Gesicht der Anderen
“Was hältst du davon?”
“Was für eine Abmachung?”
“Deine Mutter und ich müssen die Stadt verlassen, um einer Spur nachzugehen bezüglich der Person, die dir die Zeitungsausschnitte geschickt hat. Während wir weg sind, werden sich deine Tante Sharon und Lucie Evans um dich kümmern. Also bitte mach es ihnen nicht allzu schwer. Und bitte denk auch darüber nach, ob du nicht doch noch einmal mit Dr. Barrett sprechen möchtest wegen einer Therapie.”
“Und was krieg ich dafür?”
“Wenn deine Mutter und ich zurück sind, komme ich bei dir vorbei und bleibe eine Weile in Fairport.”
“So lange, wie ich Sie brauche?”
Dante lachte. “Mit dir ist schwer zu verhandeln.”
“Das habe ich von Großvater und Mama gelernt. Sie können beide gut verhandeln.”
“Okay. Ich werde so lange bleiben, wie du denkst, dass du mich brauchst.”
“Sie haben gerade den Text etwas verändert.”
“Nur ein bisschen. Also, was sagst du?”, fragte Dante.
“Okay. Abgemacht.”
“Und jetzt gebe ich dir deine Mutter”, sagte Dante zu Leslie Anne. “Sei nett zu ihr. Sie hat dich nämlich sehr lieb, weißt du.”
“Ja, ich weiß.”
Er gab Tessa das Telefon.
“Dante und ich werden nicht lange weg sein. Und du kannst mich immer anrufen, hörst du?”, sagte Tessa. “Oder soll ich lieber hierbleiben?” Leslie Anne sagte etwas zu ihr, worauf Tessa lachte. “Okay. Ich denk dran. Ich hab dich lieb, mein Schätzchen.”
Tessa klappte das Handy zu und steckte es wieder in ihre Manteltasche.
“Was hat sie gesagt?”, fragte Dante.
“Sie hat gesagt, wenn ich halb so schlau wäre wie sie, sollte ich dich verführen.”
“Bist du sicher, dass sie erst sechzehn ist?”
“Tja … Für meinen Geschmack ist sie ein bisschen zu neunmalklug.”
“Das ist nicht deine Schuld”, sagte Dante.
“Jedenfalls nicht ganz. Aber ich hätte sie besser beschützen müssen.”
“Wie denn?”
“Ich hätte ihr früher die Wahrheit sagen können”, stellte Tessa fest.
14. KAPITEL
W ie entgegenkommend von Tessa, die Stadt zu verlassen. Aber wie rücksichtslos von ihr, diese rothaarige Amazone zu Leslie Annes Beaufsichtigung abzustellen. Andererseits wird Lucie Evans nichts an meinem großen Plan ändern können. Ich habe mir nämlich etwas Neues ausgedacht. Ich werde die Agentin wie alle anderen Hindernisse, die mir im Weg stehen könnten, einfach umgehen. Zwar muss ich Leslie Anne immer noch loswerden, aber inzwischen bin ich zu der Auffassung gelangt, man sollte alle von den Selbstmordabsichten des Mädchens überzeugen. Schließlich sollte es nicht allzu schwer sein, die Göre über die Klippe zu stoßen. Ein Schubser hier, ein Schubser da. Sanft, aber tödlich. Wenn ich sie davon überzeugen kann, dass es keine Hoffnung für sie gibt, dass sie niemals etwas an ihrem Erbgut ändern kann, dann verfällt sie vielleicht ohnehin auf den Gedanken, mit allem Schluss zu machen – bevor es zu spät ist und sie durch “abnormales Verhalten” auffällt. Oder bevor alle die Wahrheit über ihre Herkunft herausfinden und nur darauf warten, dass sie eines Tages ausrastet und ein schreckliches Verbrechen begeht.
Natürlich wird der Tod ihres einzigen Kindes Tessa zerstören. Von diesem Verlust wird sie sich niemals erholen.
Oh ja, das wäre der ideale Ausgang der Geschichte. Die arme kleine Leslie Anne Westbrook. So sehr lastet es auf ihrer Seele, dass ihr Vater ein Serienmörder und Vergewaltiger war, dass sie sich das Leben nimmt. Und dann bricht ihre Mutter zusammen. Zwei Fliegen mit einer Klappe. Die Tochter ausschalten und damit die Mutter fertigmachen.
Brillant. Absolut brillant.
Und falls Leslie Anne es doch nicht tut? Sie hat G. W.s Sturheit geerbt und wurde von ihm und ihrer Mutter zu Charakterfestigkeit, Entschlossenheit und Stärke erzogen. Es besteht also die Möglichkeit, dass sie sich nichts antun wird. In diesem Fall lässt sie mir keine andere Wahl – dann muss ihr Tod eben wie ein Selbstmord aussehen. Das kann so schwer nicht sein. Ein Abschiedsbrief an die grausame Welt auf ihrem Computer, gepaart mit ihrem merkwürdigen Verhalten der vergangenen Tage. Das würde schon ausreichen.
Ich muss meinen Plan sofort in die Tat umsetzen. Wenn ich alles richtig mache, werden die ihr nahestehenden Menschen erstaunt feststellen müssen, wie gestört das arme Kind wirklich ist.
Leslie Anne erwachte unvermittelt. Sie hatte das Gefühl, jemand riefe ihren Namen. Eine komische Stimme. Weder männlich noch
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