Das Gesicht der Anderen
weiblich. Aber furchterregend und schrecklich.
Sie setzte sich auf und lauschte. Doch alles, was sie hörte, war ihr eigener Herzschlag, der laut in ihren Ohren pochte. Sie war noch nicht ganz wach und glaubte, dass die Stimme einem Albtraum entsprungen war. Doch vorsichtshalber sah sie sich in ihrem Schlafzimmer um.
Ich bitte dich. Es ist völlig unmöglich, dass jemand ins Haus eingedrungen ist und sich in deinem Schrank oder unter deinem Bett versteckt.
Sie hatte sich die Stimme nur eingebildet. Oder sie geträumt. Sie sollte den Quatsch vergessen.
Doch dann fiel ihr ein, dass die Stimme nicht nur ihren Namen gesagt hatte. Sie hatte mit ihr gesprochen.
Versuch, dich zu erinnern. Was hat sie gesagt?
Leslie Anne. Leslie Anne! Wer ist dein Vater, kleines Mädchen?
Oh Gott! Ja, das war es, was die Stimme gesagt hatte. Und das war kein Traum. Es konnte kein Traum gewesen sein, denn sie war von dem Klang der Stimme aufgewacht. Irgendjemand aus dem Haus hatte sich in ihr Zimmer geschlichen und …
Leslie Anne sprang aus dem Bett und suchte alles ab. Unterm Bett. Hinter den Vorhängen. In ihrem riesigen Kleiderschrank. Hinter dem Duschvorhang. Sie steckte sogar den Kopf in den Kamin. Dann ließ sie sich auf den Rücken fallen und lachte. Was war sie bloß für eine Idiotin? Im Kamin nach einem Eindringling zu suchen? Glaubte sie etwa, die komische Stimme gehöre Santa Claus?
“Was ist denn so lustig?”, fragte Eustacia, als sie in diesem Moment mit Leslie Annes Frühstückstablett die Suite betrat.
“Das kannst du nicht verstehen.” Leslie blieb auf dem Fußboden sitzen und wandte sich zu der Köchin um. “Wie viel Uhr ist es denn? Ich vermute, alle anderen haben schon längst gefrühstückt?”
“Es ist zehn vor elf, junge Dame”, sagte Eustacia leicht pikiert. “Mr. G. W. hat darauf bestanden, dass ich dir bis elf Uhr das Frühstück serviere. Aber das eine sage ich dir …”, und damit stellte sie das Tablett auf einen runden Tisch, an dem zwei Stühle mit Seidenbezug standen, “… lass das ja nicht zur Gewohnheit werden. Ich bin zu alt, um jedes Mal das Essen nach oben zu bringen, noch dazu, wo du selbst problemlos nach unten kommen kannst.”
“Es tut mir leid.” Leslie Anne sprang auf und umarmte Eustacia. “Kannst du mir noch einmal verzeihen?”
“Natürlich.” Eustacia klopfte auf Leslie Annes Po. “Ich weiß ja nicht, was dich dazu veranlasst hat wegzulaufen. Ich weiß nur, dass du deinem Großvater mächtig Sorgen machst. Du solltest dir überlegen, ihn nachher im Büro anzurufen oder vielleicht sogar …”
“Er ist ins Büro gefahren?”
“Selbstverständlich. Gibt es einen Grund, warum er zu Hause bleiben sollte?”
Leslie Anne schüttelte den Kopf. “Nein, natürlich nicht. Aber ohne Großvater und Mama ist es hier wohl ziemlich einsam.”
“Aber deine Tante Sharon ist doch noch da, dazu die anderen Gäste, Ms. Lucie Evans nicht zu vergessen.”
“Wer ist denn noch alles da?” Vielleicht war es ja einer von den Besuchern gewesen, der sie mit dieser seltsamen, hasserfüllten Stimme geweckt hatte?
“Deine Großtante Myrle und Miss Celia sind gerade gekommen, um Miss Sharon zu besuchen, und Mr. Charlie ist natürlich auch mit dabei. Dieser Mann ist öfter hier als bei der Arbeit. Es ist wirklich ein Wunder, dass Mr. G. W. noch nichts gesagt hat.”
“Charlie ist eben Charlie”, sagte Leslie Anne. “Und niemand, nicht mal Großvater, kann ihn ändern. Außerdem: Wenn er und Celia heiraten, gehört er richtig zur Familie. Und du weißt ja, was Großvater über Familie denkt.”
“Ja, Die Familie geht Mr. G. W. über alles. Und wenn Miss Olivia ihren Willen bekommt, wird die Familie demnächst noch größer. Diese Frau hat ihre Fänge nach deinem Großvater ausgestreckt, und ich wäre nicht im Mindesten überrascht, wenn sie ihm noch vor Weihnachten einen Heiratsantrag entlocken würde.”
“Sag doch so was nicht!” Leslie Anne runzelte die Stirn. “Großvater wird diese schreckliche Person garantiert nicht heiraten.”
“Aber sie wird es immer weiter versuchen. Sie und ihr wertloser Sohn sind übrigens auch da. Sie sind vor zwanzig Minuten gekommen – wie immer unangekündigt und völlig unerwartet. Aber du weißt ja, wie deine Tante ist. Sie hat sie herzlich willkommen geheißen.”
“Wenn Mama zu Hause wäre …”
“Wo ist denn deine Mutter überhaupt?”, fragte Eustacia. “Und was wird sie davon halten, dass du heute schon wieder nicht in die
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