Das Gesicht der Anderen
mit einem Bierbauch, der ihm über den Gürtel hing, und leicht zurückgehendem Haaransatz. Wenn die Bezeichnung “echter Kumpel” auf jemanden zutraf, dann sicherlich auf ihn. Er hatte Dante und Tessa in sein Büro gebeten, Kaffee für sie bestellt und ihre Fragen bereitwillig beantwortet. Aber als Dante ihn fragte, ob er sich daran erinnerte, dass vor siebzehn Jahren eine nackte, halb tot geprügelte blonde Frau neben der Interstate 20 gefunden worden war, wurde er aschfahl und erlitt einen plötzlichen Anfall von Gedächtnisverlust.
“Ganz sicher, dass das in Richland Parish gewesen sein soll?”, fragte Summers.
“Ja, ganz sicher”, erwiderte Tessa. “Wissen Sie, ich bin nämlich diese Frau. Ich lag danach zehn Tage hier im Krankenhaus.”
Summers schüttelte den Kopf. “Ich war damals nur Hilfssheriff, noch feucht hinter den Ohren. Ich sage Ihnen, ich erinnere mich an keinen solchen Fall. Aber vor etwa fünfzehn oder zwanzig Jahren gab es hier mal einen schweren Unfall, in den eine junge blonde Frau verwickelt war. Sheriff Wadkins würde Ihnen das sicher gern bestätigen. Aber der Gute leidet seit Jahren an Alzheimer und weiß nicht einmal, welcher Tag gerade ist.”
Dante sah Summers scharf an. “Sie sind ganz sicher, dass es keine junge Frau …”
“Ganz sicher.”
“Man würde meinen, dass jeder, der damals etwas davon mitbekommen hat, sich an diesen doch eher außergewöhnlichen Fall erinnert”, bemerkte Tessa. “Vielleicht können wir noch mit den anderen Leuten sprechen, die hier gearbeitet haben.”
“Das bringt nichts”, entgegnete Summers. “Sicher erinnert sich keiner an etwas anderes als ich.”
“Wieso glauben Sie das?”, fragte Dante.
“Wie gesagt. Es gab hier keinen solchen Fall. Wenn es einen solchen Fall gegeben hätte, gäbe es auch eine Akte. Und ich kann Ihnen versichern, dass es hier keine Akte über eine blonde Frau gibt, die an der Interstate 20 gefunden und ins Krankenhaus gebracht wurde. Hier haben wir jedenfalls keine Akte. Im Krankenhaus auch nicht und in der Gerichtsmedizin auch nicht. Weil hier so was nicht passiert ist. Ma'am, vielleicht verwechseln Sie unsere Stadt ja mit einer anderen Stadt in Louisiana. Haben Sie schon in den Sheriffbüros von Madison, East Carrol und West Carrol nachgefragt? Der Highway zieht sich ja durch den ganzen Bundesstaat.”
“Nein, Sheriff Summers, da haben wir noch nicht gefragt, denn ich weiß ganz sicher, dass …” Tessa erschrak, als Dante sie abrupt am Arm fasste und von ihrem Stuhl zog.
“Da der Sheriff sicher ist, dass wir in der falschen Stadt sind, sollten wir seine kostbare Zeit nicht weiter beanspruchen.”
“Was?” Tessa funkelte Dante an. Ganz offensichtlich zweifelte sie an seinem Verstand.
“Lass uns gehen, Schatz. Wenn wir uns beeilen, können wir noch in den anderen Städten anrufen, bevor Mittagszeit ist.”
Dante schüttelte Sheriff Summers die Hand und hielt mit der anderen die vor Wut schäumende Tessa fest. Dann drängte er sie buchstäblich aus dem Gebäude und hinaus auf die Julia Street. Als sie vor ihrem Wagen standen, starrte sie ihn böse an.
“Willst du mir vielleicht verraten, was das soll?”
“Tut mir leid, dass ich mal kurz den Macho geben musste. Aber es war ja wohl glasklar, dass Summers etwas zu verbergen hatte, eine Information, die er uns auf keinen Fall mitteilen wollte. Je nachdrücklicher wir geworden wären, desto weniger hätten wir was aus ihm herausgebracht. Außerdem hat er uns sowieso, ohne es zu merken, einen wertvollen Hinweis gegeben.”
“Ja? Welchen denn?”
“Er hat doch Stein und Bein geschworen, es gäbe keine Akten zu dem Fall, weder im Sheriffbüro noch im Krankenhaus noch …”
“… in der Gerichtsmedizin.”
“Bingo.”
“Warum sollte bei der Gerichtsmedizin eine Akte über jemanden liegen, wenn dieser Jemand überlebt hat?”
“Gute Frage.”
“Und wie finden wir das heraus?”
“Ich würde sagen, wir warten erst mal ab, was unser Krankenhausinformant uns mitzuteilen hat. Wer weiß, vielleicht gibt es eine Verbindung zwischen dem, was der Sheriff uns nicht gesagt, und was unser Informant herausgefunden hat.” Dante grinste Tessa an.
15. KAPITEL
D as City Café war ein kleines, angenehm wirkendes Lokal, eingerahmt von einem Geschäft und einem leer stehenden Backsteingebäude. Ein dunkelhaariger Mann in einem wattierten dunkelblauen Parka und roter Mütze lungerte vor der Tür herum, den Blick nach unten gerichtet. Kaum näherten
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