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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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Vater sich in einem fortgeschrittenen Stadium befand, aber mit neunundsechzig Jahren war der Mann noch nicht alt - zumindest nicht nach amerikanischen Maßstäben -, und die täglichen Spaziergänge und Leibesübungen hatten ihn bei Kräften erhalten. Ein versierter Chirurg würde ihn operieren und die von der krebserregenden Feuchtigkeit zerstörten Körperteile entfernen können. Danach ließ die Krankheit sich durch Bestrahlung und geeignete Medikamente unter Kontrolle halten. Sein Vater konnte noch viele Jahre weiterleben.
    Der alte Mann schlug plötzlich die Augen auf. »Nachdem man einen seiner Leute getötet hat, wird der Geist wütend sein. Außerdem ist es ihm nicht gelungen, die Wus zu ermorden. Nun wird er uns suchen. Ich weiß, wie Leute seines Schlages funktionieren. Er wird nicht aufgeben, bis er uns gefunden hat.«
    - Das war charakteristisch für Chang Jiechi. Er saß einfach da, hielt Augen und Ohren offen und teilte dann seine Einschätzung mit, die sich im weiteren Verlauf ausnahmslos als richtig erwies. So hatte er zum Beispiel Mao Tsetung stets für einen Psychopathen gehalten und vorausgesagt, dass China unter seiner Herrschaft eine gewaltige Umwälzung erleben würde. Und er behielt Recht: Ende der fünfziger Jahre kam die Wirtschaft des Landes dank Maos »Großem Sprung nach vorn« fast völlig zum Erliegen, und kurze Zeit später forderte die Kulturrevolution ihre Opfer, zu denen auch Changs Vater zählte wie alle aufgeschlossenen Künstler und Denker.
    Doch Chang Jiechi hatte alle Katastrophen überlebt. »Es wird vorbeigehen«, lautete seine Prognose gegen Ende der sechziger Jahre. »Dieser Wahnsinn kann keinen Bestand haben. Wir müssen am Leben bleiben und abwarten. Das ist alles.«
    Keine zehn Jahre später sah er sich bestätigt: Mao war tot, und die Viererbande saß im Gefängnis.
    Und auch jetzt irrt er sich nicht, dachte Sam Chang bedrückt. Der Geist würde sie jagen. Der Begriff »Schlangenkopf« war von dem Bild einer Marschkolonne abgeleitet, an deren Spitze der listige Schlepper alle Hindernisse überwand, um seine menschliche Fracht heimlich über die Grenze und ans Ziel zu bringen. Chang spürte, dass der Geist in diesem Moment genau damit beschäftigt war - er schlich umher, forderte offene Gefälligkeiten ein, ließ seine guanxi spielen, stieß Drohungen aus und würde vielleicht sogar jemanden foltern, um den Aufenthaltsort der Changs zu erfahren.
    Draußen kam mit quietschenden Bremsen ein Wagen zum Stehen.
    Chang, seine Frau und sein Vater erstarrten vor Schreck.
    Schritte.
    »Mach das Licht aus. Schnell«, befahl Chang. Mei-Mei lief durch die Wohnung und schaltete alle Lampen aus.
    Chang eilte zum Schrank, holte Williams Pistole aus dem Versteck und trat an die Gardine des vorderen Fensters. Mit zitternder Hand schob er sie ein Stück beiseite und sah hinaus.
    Auf der anderen Straßenseite stand ein Lieferwagen, in dessen Fenster das große Werbeschild eines Pizzadienstes hing. Der Fahrer ging soeben mit einem flachen Karton auf eine der Haustüren zu.
    »Alles in Ordnung«, sagte Chang. »Gegenüber wird etwas angeliefert.«
    Aber dann ließ er den Blick durch die dunkle Wohnung schweifen und sah im flackernden blauen Licht des Fernsehers die vagen Umrisse seines Vaters, seiner Frau und des kleinen Mädchens. Sein erleichtertes Lächeln verschwand, und ein Gefühl tiefen Bedauerns überkam ihn, ähnlich der schwarzen Wolke eines Tintenstifts, den man ins Wasser tauchte. Was mussten diese geliebten Menschen infolge seiner Entscheidungen alles erdulden? In Amerika, so hatte er gelesen, empfanden viele Leute es als seelische Belastung, wenn sie ein Verbrechen begangen hatten. In China hingegen wurde von Schuldgefühlen gequält, wer seine Familie und Freunde enttäuscht und dadurch Schande auf sich geladen hatte. Genau das verspürte er jetzt: ein brennendes Schamgefühl.
    Das also ist das Leben, das ich meinem Vater und meiner Familie zumute: Angst und Dunkelheit. Nichts als Angst und Dunkelheit.
    Dieser Wahnsinn kann keinen Bestand haben.
    Vielleicht nicht, dachte Chang. Aber dadurch wird er nicht weniger tödlich, solange er andauert.
    Der Geist saß auf einer Bank in Battery Park City und beobachtete die Lichter der Schiffe auf dem Hudson River. Dieser Anblick war weitaus ruhiger, dafür längst nicht so malerisch wie an Hongkongs Küste. Es hatte aufgehört zu regnen, doch der Wind blies unvermindert heftig und trieb die tief hängenden Wolken schnell voran, derweil

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