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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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können. Doch nun bin ich alt und krank, und ein oder zwei weitere Jahre auf dieser Erde erscheinen mir nicht mehr erstrebenswert. Ich finde vielmehr Trost in der Pflicht, zur Seele der Natur zurückzukehren, und zwar genau zu jener Stunde, die im Verzeichnis der Lebenden und der Toten für mich vorgesehen ist.
    Diese Stunde ist jetzt gekommen.
    Ich könnte dir noch vieles sagen, könnte alle Lektionen meines Lebens zusammenfassen, alles, was ich von meinem Vater, deiner Mutter und auch von dir, mein Sohn, gelernt habe. Doch ich habe mich dagegen entschieden. Die Wahrheit ist unerschütterlich, aber der Weg zur Wahrheit gleicht oftmals einem Labyrinth, das ein jeder von uns aus eigener Kraft bezwingen muss. Ich habe gesunden Bambus gepflanzt, und er ist gut gewachsen. Folge auch weiterhin deinem Pfad weg von der Erde und hin zum Licht, und nähre deine eigene junge Saat. Sei aufmerksam, so wie jeder Bauer, aber lass ihnen Raum. Ich habe die Schösslinge gesehen; sie werden gerade emporwachsen.
    Dein Vater Sam Chang wurde von grenzenloser Wut gepackt. Er stand auf, schwankte, weil ihm immer noch schwindlig war und schleuderte die Teetasse gegen die Wand, wo sie zerbarst. Ronald wich erschrocken vor ihm zurück.
    »Ich werde ihn umbringen!«, schrie Chang. »Der Geist wird sterben!«
    Das kleine Mädchen fing an zu weinen. Mei-Mei flüsterte ihren Söhnen etwas zu. William zögerte zunächst, gab dann aber Ronald einen Wink, worauf dieser Po-Yee nahm; gemeinsam gingen sie ins Schlafzimmer und schlossen die Tür hinter sich.
    »Ich habe ihn schon einmal gefunden, und ich werde ihn auch ein zweites Mal finden«, sagte Chang. »Diesmal.«
    »Nein«, sagte Mei-Mei entschlossen.
    Er drehte sich zu ihr um. »Was?«
    Sie schluckte und sah zu Boden. »Das wirst du nicht.«
    »Rede nicht so mit mir. Du bist meine Frau.«
    »Ja«, sagte sie mit zitternder Stimme. »Ich bin deine Frau. Und ich bin die Mutter deiner Kinder. Was soll aus uns werden, wenn du umgebracht wirst? Hast du darüber schon mal nachgedacht? Wir müssten auf der Straße hausen, und dann würde man uns abschieben. Kannst du dir vorstellen, wie nach unserer Rückkehr das Leben in China für uns aussehen würde? Für die Witwe eines Dissidenten ohne Grundbesitz, ohne Geld?
    Ist es das, was du willst?«
    »Mein Vater ist tot!«, rief Chang. »Der Mann, der dafür die Verantwortung trägt, muss sterben.«
    »Nein, muss er nicht«, erwiderte sie atemlos und nahm noch einmal allen Mut zusammen. »Dein Vater war ein alter und kranker Mann. Er war nicht der Mittelpunkt unseres Universums, und wir müssen weitermachen.«
    »Wie kannst du das sagen?«, tobte Chang. Die Unverschämtheit seiner Frau schockierte ihn. »Ohne ihn gäbe es mich nicht.«
    »Er hat sein Leben gelebt, und jetzt ist er tot. Du lebst in der Vergangenheit, Jingerzi. Unsere Eltern verdienen unseren Respekt, jawohl, aber auch nicht mehr als das.«
    Er registrierte, dass sie ihn mit seinem chinesischen Vornamen angesprochen hatte. Das war schon seit Jahren nicht mehr vorgekommen nicht seit ihrer Heirat. Wenn sie sich an ihn wandte, benutzte sie sonst stets das respektvolle Wort zhangfu, »Ehemann«.
    Mit etwas ruhigerer Stimme fuhr sie fort: »Du wirst seinen Tod nicht rächen. Du bleibst mit uns in diesem Versteck, bis man den Geist verhaftet oder getötet hat. Dann wirst du mit William in Joseph Tans Druckerei arbeiten. Und ich werde hier bleiben und Ronald und Po-Yee unterrichten. Wir alle werden Englisch lernen, wir werden Geld verdienen. Und wenn es eine neue Amnestie gibt, werden wir amerikanische Staatsbürger.« Sie hielt kurz inne und wischte sich das tränenüberströmte Gesicht ab. »Ich habe ihn auch geliebt, das weißt du. Es ist für mich ein genauso großer Verlust wie für dich.« Und mit diesen Worten machte sie sich wieder an die Hausarbeit.
    Chang ließ sich auf die Couch fallen, saß lange schweigend da und starrte auf den schäbigen, rotschwarzen Teppichboden. Dann ging er ins Schlafzimmer. William hatte Po-Yee auf dem Arm und sah aus dem Fenster. Chang wollte etwas zu ihm sagen, besann sich dann aber anders und winkte wortlos seinen kleineren Sohn zu sich. Der Junge betrat misstrauisch den Wohnraum und folgte seinem Vater zum Sofa. Beide setzten sich. Kurz darauf hatte Chang sich gefasst. »Sohn, kennst du die Krieger des Qin Shi Huangdi?«, fragte er Ronald.
    »Ja, Baba.«
    Das waren Tausende von lebensgroßen Terrakotta-Soldaten, - Wagenlenkern und -Pferden, die man im dritten

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