Das Gesicht des Drachen
einen Kilometer östlich. Unterwegs überlegte er sich seine nächsten Schritte: Zuerst brauchte er eine neue Waffe - etwas Großes, eine SIG oder eine Glock. Anscheinend lieferten er und die Polizei sich bei der Jagd auf die Changs ein Kopf-an-Kopf-Rennen, und falls es zu einer Schießerei kam, wollte er über ausreichend Feuerkraft verfügen. Außerdem benötigte er neue Kleidung. Und noch ein paar andere Dinge.
Der Wettstreit wurde immer aufregender. Kwan dachte an seine Jugend, als er sich vor Maos Kadern versteckt und auf dem Schrottplatz geduldig Ratten und bösartigen Hunden aufgelauert hatte. Und er dachte an die Suche nach den Mördern seines Vaters aus der Jugendbrigade. Damals hatte er viel über die Jagd gelernt, und eine der Lektionen lautete: Der stärkere Gegner erwartet, dass du seine Schwächen erforschst und ausnutzt, und trifft entsprechende Abwehrmaßnahmen. Aber der einzig effektive Weg, einen solchen Feind zu besiegen, besteht darin, seine Stärken gegen ihn zu verwenden. Und genau das hatte der Geist nun vor.
Naixin?, fragte er sich.
Nein. Die Zeit der Geduld war vorüber.
Chang Mei-Mei stellte ihrem erschöpften Mann einen Tee auf den Tisch.
Er warf einen kurzen Blick auf die hellgrüne Tasse, blieb aber ansonsten, wie seine Frau und die Söhne, ganz auf den Fernseher konzentriert.
Die Nachrichtensendung, so erfuhren sie dank Williams Übersetzungshilfe, drehte sich um zwei Männer, die man in Südmanhattan tot aufgefunden hatte.
Einer der beiden war ein chinesisch-turkestanischer Immigrant aus Queens, der andere ein neunundsechzigjähriger chinesischer Staatsbürger, der wahrscheinlich zu den Passagieren der Fuzhou Dragon gezählt hatte.
Eine halbe Stunde zuvor war Sam Chang desorientiert und mit trockenem Mund aus seinem tiefen Schlaf erwacht. Er wollte aufstehen, aber seine Beine gaben nach, und er fiel zu Boden, sodass seine Frau und die Kinder besorgt zu ihm liefen. Sobald er bemerkte, dass die Waffe verschwunden war, wurde ihm klar, was sein Vater getan hatte. Er torkelte zur Tür.
Doch Mei-Mei hielt ihn auf. »Es ist zu spät«, sagte sie.
»Nein!«, schrie er und fiel zurück auf das Sofa.
Der Verlust und die Trauer machten ihn wütend. »Du hast ihm geholfen, nicht wahr?«, brüllte er. »Du hast gewusst, was er vorhatte!«
Mei-Mei hielt Po-Yees Stoffkätzchen umklammert. Schweigend senkte sie den Kopf und starrte es an.
Chang ballte die Faust und holte aus. Mei-Mei kniff die Augen zusammen und drehte sich weg, William verlagerte sein Gewicht unbehaglich von einem Fuß auf den anderen, und Ronald weinte. Doch dann ließ Chang die Hand wieder sinken. Ich habe sie und die Kinder Respekt vor dem Alter gelehrt, vor allem vor meinem Vater, dachte er. Bestimmt hat Chang Jiechi ihr eine Anweisung gegeben, und sie hat gehorcht.
Während die Wirkung des starken Medikaments nachließ, saß Chang voller Sorge vor dem Fernseher und hoffte auf das Beste, aber letztlich bestätigte der Bericht, dass seine schlimmsten Befürchtungen zutrafen.
Nach Angaben der Reporterin hatte der ältere Mann den Turkestaner erschossen und dann offenbar eine Überdosis Morphium geschluckt. Bei dem Apartment handelte es sich vermutlich um ein Versteck Kwan Angs, des Menschenschmugglers, der im Zusammenhang mit der gestrigen Versenkung der Fuzhou Dragon gesucht wurde. Kwan war vor dem Eintreffen der Polizei geflohen und noch immer auf freiem Fuß.
Ronald weinte unaufhörlich und schaute immer wieder vom Fernseher zu seinen Eltern. »Yeye«, sagte er. »Yeye.«
William saß mit übergeschlagenen Beinen da, wiegte sich traurig vor und zurück und übersetzte die Worte der hübschen Journalistin, die zufällig eine Frau chinesisch-amerikanischer Abstammung war.
Der Bericht ging zu Ende, und Mei-Mei stand auf, als sei der durch das Fernsehen bestätigte Tod Chang Jiechis das Signal gewesen, verschwand im Schlafzimmer und kehrte mit einem Stück Papier zurück. Sie reichte den Zettel ihrem Ehemann, hob sich Po-Yee auf die Hüfte und wischte dem Mädchen Gesicht und Hände ab.
Wie betäubt nahm Sam Chang das zusammengefaltete Blatt entgegen. Der Brief war mit Bleistift geschrieben, nicht mit einem Pinsel und tiefschwarzer Tinte, aber die Schriftzeichen waren wunderschön ausgeformt; ein wahrer Künstler, so hatte der alte Mann ihn gelehrt, kann auch mit dem einfachsten Material prächtige Ergebnisse erzielen.
Mein Sohn, nie hätte ich gehofft, dereinst auf ein so erfülltes Leben zurückblicken zu
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