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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen
Autoren: Jeffery Deaver
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ganz gleich, in welchem Alter.
    »Bitte«, drängte Wu. »Wir müssen die anderen abholen.«
    »Nein«, sagte Chang nach kurzem Überlegen. »Bringen Sie sie her. Gehen Sie denselben Weg zurück - und sorgen Sie dafür, dass niemand Fußspuren hinterlässt.«
    Wu lief unverzüglich los.
    William fand im Wagen eine Mappe mit Straßenkarten der Gegend und studierte sie aufmerksam. Er nickte, als würde er sich bestimmte Details einprägen.
    Chang widerstand dem Impuls, seinen Sohn weiter wegen der kurzgeschlossenen Zündung zu befragen. »Weißt du, wo wir hinmüssen?«, fragte er nach einer Weile.
    »Das finde ich schon raus.« Der Junge hob den Kopf. »Soll ich fahren? Du kannst das nicht besonders gut«, stellte er nüchtern fest. Wie die meisten chinesischen Städter war auch Sam Chang meist mit dem Fahrrad unterwegs gewesen.
    Erneut wunderte er sich über seinen Sohn, dessen Worte und Tonfall auch diesmal an Unverschämtheit grenzten. Aber er konnte sich nicht lange mit dem Gedanken aufhalten, denn Wu kehrte mit den restlichen Flüchtlingen zurück. »Ja, fahr du«, sagte er deshalb zu seinem Sohn.
     
     
    ...Sieben
    Zwei der Ferkel hatte er am Strand erwischt - den verletzten Mann und eine Frau.
    In dem Boot hatte aber ungefähr ein Dutzend Leute gehockt. Wo waren die anderen?
    Eine laute Hupe ertönte. Der Geist wirbelte herum. Es war Jerry Tang, der seine Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. Er fuchtelte hektisch mit dem Funkscanner herum. »Die Polizei wird jede Minute hier sein! Wir müssen weg!«
    Der Geist wandte sich ab und ließ den Blick ein weiteres Mal über das Ufer und den Straßenverlauf schweifen. Wohin hatten sie sich verkrochen? Vielleicht wollten sie.
    Tangs Geländewagen bog mit quietschenden Reifen auf die Straße ein und beschleunigte.
    »Nein! Halt!«
    Wutentbrannt hob der Geist die Pistole und schoss. Die Kugel schlug in die Heckklappe des BMW ein, aber der Wagen raste mit unvermindertem Tempo weiter, bog schlitternd an einer Kreuzung ab und verschwand. Der Geist verharrte einen Moment mit der Waffe in der Hand und starrte durch den Dunst die Straße entlang, auf der seine Fluchtmöglichkeit sich soeben in Luft aufgelöst hatte. Er befand sich mehr als hundertzwanzig Kilometer vom nächsten sicheren Unterschlupf in Manhattan entfernt, sein Assistent war verschwunden, wahrscheinlich tot, und er hatte weder Geld noch ein Mobiltelefon, während gleichzeitig Dutzende von Polizisten auf dem Weg hierher waren. Und jetzt hatte Tang ihn auch noch im Stich gelassen. Am liebsten hätte er.
    Er zuckte zusammen. Nicht weit vor ihm war aus einem Feld hinter einem Kirchengebäude plötzlich ein weißer Kleinbus aufgetaucht und auf die Straße eingebogen. Die Ferkel! Der Geist riss die Pistole hoch, aber da verschwand der Wagen auch schon wieder im Nebel. Es dauerte eine Weile, und der Geist musste mehrmals tief durchatmen, doch dann überkam ihn ein Gefühl großer Gelassenheit. Gewiss, er steckte in Schwierigkeiten, aber er hatte in seinem Leben sehr viel Schlimmeres überstanden.
    Du bist Teil des Althergebrachten.
    Du wirst dein Verhalten ändern.
    Deine alten Überzeugungen werden dich das Leben kosten...
    Ein Rückschlag, so hatte er gelernt, stellte lediglich ein vorübergehendes Ungleichgewicht dar, und sogar die schrecklichsten Ereignisse in seinem Leben waren letztlich durch diverse Glücksfälle wieder ausgeglichen worden. Seine persönliche Weltanschauung ließ sich in einem Wort zusammenfassen: naixin. Es war der chinesische Begriff für »Geduld«, aber der Geist verstand noch etwas anderes darunter, das sich am ehesten mit »alles zu seiner Zeit« übersetzen ließ. Er hatte die letzten viereinhalb Jahrzehnte nur deswegen überlebt, weil Sorgen, Ärger und Kummer ihm nie etwas anhaben konnten.
    Vorerst war den Ferkeln die Flucht gelungen, und ihre Liquidierung würde warten müssen. Nun hatte er sich vordringlich darum zu kümmern, der Polizei und der Einwanderungsbehörde zu entkommen.
    Er steckte seine Pistole ein und stapfte durch Regen und Wind am Ufer entlang auf die Lichter der Kleinstadt zu. Das erste Gebäude war ein Restaurant, vor dem ein Wagen mit laufendem Motor stand.
    Na bitte, da hatte er doch schon zum ersten Mal Glück!
    Und als er dann einen Blick hinaus aufs Meer warf, musste er sogar lachen. Noch ein gutes Omen: Unweit des Ufers schwamm ein weiteres der Ferkel, ein Mann, der sich verzweifelt über Wasser zu halten versuchte. Zumindest einen von ihnen würde er also
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