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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen
Autoren: Jeffery Deaver
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offenen Ladefläche Wind und Wetter ausgesetzt wären. Überdies würde man zehn schiffbrüchige Chinesen, die in einem klapprigen alten Vehikel wie diesem nach New York fuhren, mühelos als solche erkennen können - genau wie in China die Wanderarbeiter, die auf der Suche nach Gelegenheitsjobs von Stadt zu Stadt zogen.
    »Lauft nicht durch den Schlamm«, ermahnte Chang seine beiden Begleiter. »Bleibt auf dem Gras, oder tretet auf Äste und Steine. Ich möchte vermeiden, Fußspuren zu hinterlassen.« Er war ganz automatisch vorsichtig. Als Dissident in China lernte man schnell, die eigene Fährte zu verwischen, weil man ständig damit rechnen musste, von Agenten der Volksbefreiungsarmee oder des Büros für Öffentliche Sicherheit verfolgt zu werden.
    Sie gingen weiter, zwischen Sträuchern und Bäumen hindurch, die sich im heftigen Wind neigten, vorbei an den nächsten Häusern, manche dunkel, andere von morgendlichem Familienleben erfüllt: Fernsehschirme flimmerten, Frühstück wurde zubereitet. Beim Anblick dieser typischen Alltagsbilder kam Chang die eigene missliche Lage auf einmal völlig hoffnungslos vor. Doch in China, wo er unendlich vieler Dinge beraubt worden war, hatte er gelernt, solche sentimentalen Anwandlungen zu unterdrücken, und so trieb er seinen Sohn und Wu zu größerer Eile an. Schließlich erreichten sie das letzte Gebäude der Ansiedlung: eine kleine Kirche, dunkel und anscheinend menschenleer.
    Hinter dem verwitterten Holzhaus stießen sie auf einen weißen Kleinbus. Aus Internet und Fernsehen kannte Chang ein paar Brocken Englisch, aber die Aufschrift des Transporters konnte er nicht entziffern. Seine beiden Söhne jedoch hatten sich auf sein Drängen hin schon seit mehreren Jahren mit der amerikanischen Sprache und Kultur beschäftigt. William warf nur einen kurzen Blick auf den Wagen und wusste Bescheid. »Da steht >Pentecostal Baptist Church of Eastonc«, erklärte er.
    In der Ferne war ein zweiter, leiser Knall zu hören. Chang zuckte zusammen. Der Geist hatte einen weiteren Flüchtling ermordet.
    »Los!«, flehte Wu ängstlich. »Schnell. Lasst uns nachsehen, ob er offen ist.«
    Aber die Türen waren abgeschlossen.
    Während Chang sich nach einem geeigneten Gegenstand umsah, mit dem sie die Seitenscheibe einschlagen konnten, nahm William das Schloss genau in Augenschein. »Hast du mein Messer noch?«, rief er, um das Heulen des Windes zu übertönen.
    »Dein Messer?«
    »Das ich dir auf dem Schiff gegeben habe - um das Seil durchzuschneiden.«
    »Das war deins?« Was hatte sein Sohn bloß mit einer derartigen Waffe vorgehabt? Es war ein Springmesser.
    »Hast du es noch?«, wiederholte der Junge.
    »Nein, ich hab es beim Einsteigen fallen gelassen.«
    - William verzog das Gesicht, aber Chang ging darüber hinweg obwohl ein solches Verhalten dem eigenen Vater gegenüber ziemlich ungehörig war - und suchte den matschigen Boden ab. Er fand ein kurzes Metallrohr und hieb damit kräftig gegen die Scheibe. Das Glas zerbarst in Hunderte winziger Krümel. Chang setzte sich auf den Beifahrersitz und suchte im Handschuhfach nach Schlüsseln. Er fand nichts, stieg wieder aus und blickte zum Gebäude. Ob in der Kirche wohl ein Schlüssel lag? Aber wo? In einem Büro? Womöglich gab es hier einen Hausmeister; was, wenn der Mann sie hörte und sich ihnen in den Weg stellte? Chang glaubte nicht, dass er einen Unschuldigen niederschlagen konnte, selbst wenn.
    Er hörte ein lautes Knacken und fuhr erschrocken herum. Sein Sohn saß auf dem Fahrersitz und hatte mit dem Stiefel soeben das Plastikgehäuse des Zündschlosses zertreten. Verblüfft und bestürzt sah Chang, wie er die Kabel herausriss und die blanken Enden aneinander hielt. Plötzlich erwachte dröhnend das Radio zum Leben: »Er wird dich immer lieben, also öffne dein Herz für unseren Heiland...«
    William drückte auf einen Knopf am Armaturenbrett und verringerte die Lautstärke. Dann hielt er zwei andere Kabel aneinander. Ein Funke war zu sehen.. und der Motor sprang an.
    Chang konnte es kaum fassen. »Wo hast du das denn gelernt?«
    Der Junge zuckte die Achseln.
    »Sag mir sofort.«
    Wu packte ihn am Arm. »Los jetzt! Wir müssen unsere Familien holen und verschwinden. Der Geist ist hinter uns her.«
    Chang starrte seinen Sohn schockiert an. Er erwartete eigentlich, dass der Junge beschämt den Kopf senken würde, aber William erwiderte den Blick dermaßen ungerührt, wie Chang dies seinem eigenen Vater gegenüber niemals gewagt hätte,
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