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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen
Autoren: Jeffery Deaver
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dich auf ...
    Sie machte sich mit dem ESU-Cop am Strand entlang auf den Weg und stieß ungefähr hundert Meter von der ersten Landestelle entfernt auf ein zweites, kleineres Schlauchboot. Amelias erster Impuls war, es auf Spuren zu untersuchen, doch dann besann sie sich und blieb bei ihrer ursprünglichen Absicht. Sie stellte sich mit dem Rücken zum Wind und hielt nach den Flüchtlingen Ausschau - und nach Anzeichen für einen Hinterhalt oder ein Schlupfloch, in dem womöglich der Geist lauerte.
    Nichts zu sehen.
    Kurz darauf trug der Wind das Geheul der Sirenen an Amelias Ohren, und die Fahrzeugkolonne bog mit hoher Geschwindigkeit in den Ort ein. Die zehn oder zwölf Einheimischen, die in dem Restaurant und der Tankstelle gesessen hatten, wagten sich alle nach draußen, um herauszufinden, was in ihrer beschaulichen kleinen Gemeinde eine derartige Aufregung verursachte.
    Die oberste Pflicht eines Kriminalisten lautet, den Schauplatz des Verbrechens abzusichern, damit das Beweismaterial nicht verfälscht oder vernichtet werden kann - weder unbeabsichtigt noch durch die Hände von Souvenirjägern oder gar den Täter selbst, der sich eventuell als Schaulustiger tarnt. Schweren Herzens überließ Sachs die weitere Suche nach Überlebenden der Schiffskatastrophe den neu eingetroffenen Beamten und lief zu dem blauweißen Kleinbus der New Yorker Spurensicherung, um ihre Kollegen einzuweisen.
    Während die Techniker den Strand mit gelbem Plastikband absperrten, stieg Amelia samt durchnässter Jeans und T-Shirt in einen weißen Kapuzenoverall. Diese neueste Errungenschaft forensischer Berufskleidung bestand aus Tyvek, einer Polyäthylenfaser, und sollte verhindern, dass der Träger den Tatort versehentlich durch eigene Spurenpartikel verunreinigte - beispielsweise durch Haare, Hautschuppen oder Schweißtropfen.
    Lincoln Rhyme hielt sehr viel von dieser Vorsichtsmaßnahme schon während seiner aktiven Zeit als Leiter der Investigation and Resources Division und damit als Chef der Spurensicherung hatte er sich um vergleichbare Anzüge bemüht. Sachs hingegen war weniger begeistert, allerdings nicht, weil sie in dem Overall wie ein Außerirdischer aus einem billigen Science-Fiction-Film aussah. Nein, sie machte sich Sorgen wegen der leuchtend weißen Farbe. Falls nämlich ein Täter aus irgendwelchen Gründen in der Nähe des Schauplatzes blieb, um seine Schießkünste an den Beamten der Spurensicherung zu erproben, gab sie damit ein weithin sichtbares Ziel ab. Daher hatte Sachs dem Anzug insgeheim einen Spitznamen verpasst: »Tontaubendress«.
    Eine kurze Befragung der Restaurantgäste, Tankstellenangestellten und Bewohner dieser Hand voll Häuser am Strand erbrachte keine neuen Erkenntnisse, abgesehen von den bereits bekannten Fakten über den Honda, mit dem der Geist entkommen war. Es wurden keine weiteren Fahrzeuge vermisst, und niemand hatte jemanden ans Ufer schwimmen gesehen, eine verdächtige Person an Land bemerkt oder bei diesem heftigen Wind und Regen auch nur die Schüsse gehört.
    Somit lag es allein bei Amelia Sachs - und Lincoln Rhyme -, dem Schauplatz möglichst viele Informationen über den Geist, die Schiffsbesatzung und die Flüchtlinge zu entlocken.
    Und es war ein gewaltiger Schauplatz, einer der größten, die sie jemals untersucht hatten: anderthalb Kilometer Strand, eine Straße und jenseits davon dichtes Unterholz. Millionen einzelner kleiner Orte. Und womöglich verbarg sich irgendwo ein bewaffneter Täter.
    »Es wird sehr schwierig, Rhyme. Der Regen hat ein wenig nachgelassen, ist aber immer noch ziemlich heftig, und die Windgeschwindigkeit liegt bei etwa fünfunddreißig Kilometern pro Stunde.«
    »Ich weiß. Wir haben den Wetterkanal eingeschaltet.« Er klang jetzt anders, ruhiger. Es kam ihr irgendwie unheimlich vor. Sie musste an den beklemmend ungerührten Tonfall seiner Stimme denken, wenn er darüber sprach, ein Ende zu machen, sich umzubringen, eine unabänderliche Entscheidung zu treffen. »Ein weiterer Grund, die Suche fortzusetzen, meinst du nicht auch?«, stichelte er.
    Sie schaute den Strand auf und ab. »Es ist nur. Das Gebiet ist zu groß. Es gibt hier so unglaublich viel von allem.«
    »Wie kann das Gebiet zu groß sein, Sachs? Wir suchen jeden Tatort Schritt für Schritt ab, egal, ob es sich um einen Quadratkilometer Landschaft oder um ein kleines Zimmer handelt. Es dauert bloß länger. Wir haben sogar eine besondere Vorliebe für große Schauplätze. Dort gibt es nämlich
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