Das Gesicht des Drachen
starrte auf den roten Punkt, der für das Schiff stand, und empfand abermals ein tiefes Schuldgefühl, weil sein mangelnder Weitblick den Tod der Flüchtlinge zur Folge gehabt hatte.
Die Sirenen wurden lauter und hielten vor seinem Haus, dessen Front zum Central Park wies. Einen Augenblick später ging die Tür auf, und Amelia Sachs betrat das Zimmer. Sie hinkte ein wenig. Ihr Haar war verfilzt und schmutzig, und es schien sich etwas Seetang darin verfangen zu haben. Ihre Jeans und das Hemd waren feucht und sandverkrustet.
Die anderen Beamten nickten ihr geistesabwesend zu. Dellray sah genauer hin und zog eine Augenbraue hoch.
»Ich hatte etwas Zeit und bin schwimmen gegangen«, erklärte sie. »Hallo, Mel.«
»Amelia«, sagte Cooper und schob seine Brille ein Stück höher auf die Nase. Verwundert nahm er ihre ramponierte Erscheinung zur Kenntnis.
Rhyme war schon sehr neugierig auf das, was sie mitgebracht hatte: einen grauen Karton voller Plastik- und Papiertüten. Sie reichte die Beweismittel an Cooper weiter und lief zur Treppe. »Bin in fünf Minuten zurück.«
Kurz darauf hörte Rhyme von oben die Dusche, und tatsächlich, nach fünf Minuten war Amelia wieder da. Sie trug einige der Sachen, die sie in seinem Schlafzimmerschrank verstaut hatte: Bluejeans, ein schwarzes T-Shirt und Joggingschuhe.
Cooper hatte sich Latexhandschuhe übergestreift und teilte die Spuren nach ihren Fundorten auf - einerseits der Strand, andererseits der Wagen in Chinatown. Rhyme warf einen Blick darauf und spürte - in den Schläfen, nicht in der tauben Brust -, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, sicheres Anzeichen für die atemberaubende Spannung einer bevorstehenden Jagd. Sport hatte Rhyme noch nie besonders interessiert, aber gleichwohl vermutete er, dass diese nervöse Erregung dem Gefühl eines Abfahrtsläufers gleichkam, der am Start stand und den Berghang hinunterblickte. Würde er gewinnen? Würde er an dieser Rennstrecke scheitern? Würde ihm ein taktischer Fehler unterlaufen und er den entscheidenden Sekundenbruchteil einbüßen? Würde er sich verletzen oder gar ums Leben kommen?
»Okay«, sagte er. »Fangen wir an.« Er sah sich im Raum um. »Thom? Thom! Wo steckt er denn? Er war doch gerade noch hier. Thom!«
»Was ist los, Lincoln?« Der geplagte Betreuer erschien an der Tür. Er hatte eine Bratpfanne und ein Geschirrtuch in der Hand.
»Sei bitte unser Schreiber, und halt in Stichworten unsere Erkenntnisse fest.« Er nickte in Richtung der Wandtafel. »Du hast eine so schöne Handschrift.«
»Ja, Bwana.« Er wollte in die Küche zurückkehren.
»Nein, lass den Kram einfach hier liegen«, nörgelte Rhyme. »Los, schreib!«
Seufzend legte Thom die Pfanne beiseite und trocknete sich die Hände ab. Dann steckte er sich die violette Krawatte ins Hemd und trat an die weiße Tafel. Er hatte hier bereits an mehreren forensischen Untersuchungen mitgewirkt und kannte die Abläufe. »Hat man Ihnen schon einen Namen für den Fall mitgeteilt?«, fragte er Dellray.
Das FBI gab wichtigen Ermittlungen stets einen eigenen Namen, zumeist das Akronym einiger Schlagworte, die den betreffenden Fall charakterisierten. Dellray griff nach der Zigarette hinter seinem Ohr. »Nein, noch nicht. Aber denken wir uns doch selbst einen aus und stellen Washington vor vollendete Tatsachen. Wie war's mit dem Namen unserer Zielperson? GHOSTKILL. Alle einverstanden? Ist es auch gruselig genug?«
»Ziemlich gruselig«, stimmte Sellitto ihm zu, klang dabei aber wie jemand, der sich nur selten in Angst und Schrecken versetzen ließ.
Thom schrieb das Wort oben auf die Tafel und drehte sich wieder zu den Beamten um.
»Wir haben zwei Schauplätze«, sagte Rhyme. »Den Strand bei Easton und den Wagen. Zunächst der Strand.«
Als Thom die Überschriften eintrug, klingelte Dellrays Telefon. Das Gespräch dauerte nicht lange.
»Bisher gibt es keine weiteren Überlebenden«, teilte der FBI- Mann den anderen mit. »Die Küstenwache hat das Schiff noch nicht lokalisiert. Allerdings haben sie drei Leichen aus dem Wasser gezogen. Zwei wurden erschossen, einer ist ertrunken. Einer hatte einen Anmusterungsvertrag in der Tasche, die anderen nichts. Man schickt uns Fingerabdrücke und Fotos. Kopien davon gehen nach China.«
»Er hat sogar die Besatzung ermordet?«, fragte Eddie Deng.
»Was haben Sie erwartet?«, gab Coe zurück. »Sie kennen ihn doch inzwischen. Glauben Sie, er würde auch nur einen einzigen Zeugen am Leben lassen?« Er lachte
Weitere Kostenlose Bücher