Das Gesicht des Drachen
Nachrichten von dem Schiff gehört«, sagte Tan. »Guan Yin sei Dank, dass ihr wohlbehalten angekommen seid.«
»Viele haben ihr Leben verloren. Es war schrecklich. Wir sind beinahe alle ertrunken.«
»Im Fernsehen hieß es, der Geist sei der verantwortliche Schlangenkopf gewesen.«
»Ja, das stimmt«, bestätigte Chang und erzählte, wie der Mann sogar noch an Land versucht hatte, sie zu töten.
»Dann müssen wir uns sehr vorsichtig verhalten. Ich werde Ihren Namen niemandem gegenüber erwähnen, aber die anderen Angestellten werden zweifellos neugierig sein. Ursprünglich hatte ich gedacht, Sie könnten gleich mit der Arbeit beginnen, aber unter diesen Umständen. Wir sollten lieber noch etwas warten. Vielleicht bis nächste Woche. Oder noch eine Woche länger. Danach werden Sie von mir eingewiesen. Kennen Sie sich mit amerikanischen Druckmaschinen aus?«
Chang schüttelte den Kopf. In China war er Kunstprofessor gewesen - und schließlich als Dissident entlassen worden. Um ihn auf die »richtigen Gedanken« zu bringen, hatte man ihn zu körperlicher Arbeit gezwungen, ebenso wie die zahllosen verachteten Kalligraphen und Künstler, die während der Kulturrevolution in den sechziger Jahren mit einem Berufsverbot belegt und verschleppt worden waren. Und wie so viele dieser Schicksalsgenossen war auch Chang in einer Druckerei gelandet, wo er sich an veralteten Druckerpressen chinesischer und russischer Bauart abgemüht hatte.
Sie unterhielten sich eine Weile über das Leben in China und Amerika. Dann schrieb Tan ihnen auf, wie sie zu seiner Firma gelangen und zu welchen Zeiten Chang und sein Sohn arbeiten würden. Er bat darum, William kennen zu lernen.
Chang öffnete die Tür zum Zimmer des Jungen und starrte - zunächst überrascht, dann erschrocken - in den leeren Raum. William war nicht da.
Er drehte sich zu Mei-Mei um. »Wo ist unser Sohn?«
»Er war in seinem Zimmer. Ich habe ihn nicht weggehen gesehen.«
Chang eilte zur Hintertür und fand sie unverriegelt. William hatte sie offen gelassen und sich davongeschlichen.
Nein!
Der Hinterhof war leer, ebenso die angrenzende Gasse. Chang kehrte ins Wohnzimmer zurück und wandte sich an Tan. »Wo würde ein Teenager hier wohl hingehen?«
»Spricht er Englisch?«
»Besser als wir alle.«
»An der Ecke gibt es ein Starbucks. Wissen Sie, was das ist?«
»Ja, eines dieser Cafes.«
»Viele chinesische Teenager gehen dorthin. Er wird doch hoffentlich nichts von der Dragon erzählen, oder?«
»Nein, bestimmt nicht«, versicherte Chang. »Er weiß, wie gefährlich das wäre.«
»Der Junge wird sich noch als Ihr größtes Problem erweisen«, sagte Tan, der ebenfalls Kinder hatte, und deutete auf den Fernseher. »Er wird diesen Apparat einschalten und alles haben wollen, was er sieht: Videospiele, Autos, Markenkleidung - und zwar ohne sich dafür anzustrengen. Im Fernsehen sieht man nämlich nur Leute, die Sachen besitzen, nicht etwa Menschen, die dafür arbeiten müssen. Sie sind den ganzen weiten Weg hierher gekommen, Sie haben den Atlantik und den Geist überlebt. Achten Sie darauf, dass man Sie nicht abschiebt, weil Ihr Sohn beim Ladendiebstahl erwischt und von der Polizei an die Einwanderungsbehörde überstellt wurde.«
Chang verstand, was der Mann sagte, war aber zu panisch, um sich darauf konzentrieren zu können. Überall in der Gegend lauerten womöglich bangshous des Geists. Oder Männer, die ihm den Aufenthaltsort seiner Familie verkaufen würden. »Ich muss sofort los und den Jungen suchen.«
Tan ging mit ihm hinaus und wies auf die Ecke, an der das Cafe lag. »Ich mache mich jetzt auf den Weg«, sagte er. »Seien Sie streng mit Ihrem Sohn. Nun, da er hier ist, wird es sehr viel schwieriger werden, aber Sie müssen ihn im Griff behalten.«
Mit gesenktem Kopf ging Chang vorbei an den billigen Wohnhäusern, den Waschsalons, Feinkostgeschäften, Restaurants und kleinen Läden. Dieses Viertel war längst nicht so übervölkert wie Manhattans Chinatown, die Bürgersteige breiter und auf den Straßen weniger Leute unterwegs. Mehr als die Hälfte der Einwohner war asiatischer Abstammung, allerdings aus verschiedenen Herkunftsländern: China, Vietnam und Korea. Außerdem gab es hier viele Latinos, einige Inder und Pakistaner, aber kaum Menschen weißer Hautfarbe.
Chang schaute in die Geschäfte, aber William war nirgendwo zu entdecken.
Er flehte Chenwu an, sein Sohn möge bitte nur zu einem kleinen Spaziergang aufgebrochen sein und weder ein
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