Das Gesicht des Drachen
lange, bis die Polizei ihn verhaftet hat.«
»Und falls man ihn nicht erwischt?«
»Warum bringst du solche Schande über mich?«, fragte Chang wütend.
Kopfschüttelnd und zornig drängte William sich in die Wohnung, lief ins Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Chang nahm aus der Hand seiner Frau eine Tasse Tee entgegen.
»Wo ist er gewesen?«, fragte Chang Jiechi.
»Ein Stück die Straße hinauf. Er hat das hier gekauft.« Er zeigte ihm die Waffe, und der alte Chang nahm sie in die knorrigen Finger.
»Ist sie geladen?«, fragte Chang.
Sein Vater war früher Soldat gewesen und hatte versucht, Mao Tsetung auf dessen Langem Marsch aufzuhalten, durch den Chiang Kaishek und die Nationalisten letztlich ins Meer getrieben wurden. Er kannte sich mit Waffen aus und nahm die Pistole genau in Augenschein. »Ja. Sei vorsichtig, und achte darauf, dass der Sicherungshebel in dieser Position bleibt.« Er gab seinem Sohn die Waffe zurück.
»Weshalb hat er keinen Respekt vor mir?«, fragte Chang verärgert. Er versteckte die Waffe auf dem obersten Regalboden des vorderen Schranks und führte den alten Mann zu der muffigen Couch.
Sein Vater schwieg zunächst. Die Pause dauerte lange genug, dass Chang ihn erwartungsvoll ansah. Schließlich erwiderte der alte Mann mit verschmitztem Blick: »Wie hast du all deine Weisheit erworben, mein Sohn? Was hat deinen Verstand und dein Herz geformt?«
»Meine Professoren, Bücher, Kollegen. Hauptsächlich du, Baba.«
»Ach, ich? Du hast etwas von deinem Vater gelernt?«, fragte Chang Jiechi mit gespielter Überraschung.
»Ja, natürlich.« Chang runzelte die Stirn. Er war sich nicht sicher, worauf sein Vater hinauswollte.
Der alte Mann sagte nichts, aber der Anflug eines Lächelns erschien auf seinem grauen Gesicht.
Ein Moment verging.
»Willst du damit sagen, William habe dieses Verhalten von mir?«, fragte Chang dann. »Ich bin dir gegenüber niemals anmaßend gewesen, Baba.«
»Nicht mir gegenüber. Aber mit Sicherheit gegenüber den Kommunisten. Gegenüber Peking. Gegenüber den Behörden von Fujian. Mein Sohn, du bist ein Dissident. Du hast dich dein ganzes Leben lang aufgelehnt.«
»Aber.«
»Falls Peking dich fragen würde: >Wieso entehrst du uns so?<, was würdest du antworten?«
»Ich würde zurückfragen: >Was habt ihr getan, um euch meinen Respekt zu verdienen? <«
»William könnte dir die gleiche Frage stellen.« Chang Jiechi hob die Hände. Seine Argumentation war abgeschlossen.
»Aber meine Feinde waren Unterdrückung, Gewalt und Korruption.« Sam Chang liebte China von ganzem Herzen. Er liebte das Volk. Die Kultur. Die Geschichte. Zwölf Jahre lang hatte er leidenschaftlich und unter Aufbietung all seiner Kräfte dafür gekämpft, seiner Heimat zum Übertritt in ein aufgeklärteres Zeitalter zu verhelfen.
»Doch alles, was William gesehen hat, war sein Vater, der nächtelang vor dem Computer saß, die Obrigkeit angriff und sich keine Gedanken über die Konsequenzen machte«, sagte Chang Jiechi.
Chang wollte protestieren, aber er schwieg. Dann wurde ihm schlagartig klar, dass sein Vater womöglich Recht hatte. Er lachte leise auf. Am liebsten hätte er sofort mit seinem Sohn gesprochen, doch etwas hielt ihn zurück. Zorn, Verwirrung - vielleicht sogar Angst vor dem, was William sagen würde. Nein, er würde später mit dem Jungen reden. Sobald.
Der alte Mann zuckte auf einmal vor Schmerzen zusammen.
»Baba!«, rief Chang beunruhigt.
Zu den wenigen Habseligkeiten, die ihnen noch geblieben waren, zählte auch die nahezu volle Flasche mit Chang Jiechis Morphium. Chang hatte seinem Vater unmittelbar vor der Katastrophe eine Tablette gegeben und die Arznei dann eingesteckt. Die Flasche war wasserdicht verschlossen und hatte alles unbeschädigt überstanden.
Nun gab er dem alten Mann zwei Pillen und breitete eine Decke über ihn aus. Chang Jiechi legte sich auf die Couch und schloss die Augen.
Erschöpft ließ Sam Chang sich auf einen verstaubten Sessel sinken. Sie hatten ihr Hab und Gut verloren, sein Vater brauchte dringend ärztliche Behandlung, ein skrupelloser Mörder war hinter ihnen her, sein eigener Sohn gebärdete sich aufsässig und kriminell...
Nichts als Schwierigkeiten.
Er wollte jemandem die Schuld dafür geben: Mao, der Kommunistischen Partei Chinas, den Soldaten der Volksbefreiungsarmee.
Aber ihre gegenwärtige Not und Gefährdung schien nur eine einzige Ursache zu haben, die William genau erkannt hatte: Chang
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