Das Gesicht des Drachen
eine Mutter dar, die ihr Kind im Arm hält.«
Es drängte sie, sich ihm anzuvertrauen und ihn wissen zu lassen, wie sehr sie sich eigene Kinder wünschte. Und auf einmal war ihr zum Heulen zumute. Dann riss sie sich zusammen. Schluss jetzt! Du kannst unmöglich in Tränen ausbrechen, wenn auf einer Seite deines Gürtels Österreichs großartigste Pistole und auf der anderen eine Dose Pfefferspray hängt. Ihr wurde klar, dass sie beide sich einen Moment lang tief in die Augen geschaut hatten. Sie senkte den Blick und trank einen Schluck Tee.
»Sind Sie verheiratet?«, fragte Sung.
»Nein. Aber es gibt da jemanden in meinem Leben.«
»Das ist gut«, sagte er und sah sie weiterhin aufmerksam an. »Ich vermute, dass Sie beide auf dem gleichen Gebiet tätig sind. Handelt es sich zufällig um den Mann, den sie erwähnt haben? Lincoln.«
»Rhyme.« Sie lachte. »Ihnen entgeht sehr wenig.«
»In China sind Ärzte immer auch Erforscher der Seele.« Dann beugte er sich vor. »Strecken Sie Ihren Arm aus.«
»Was?«
»Ihren Arm. Bitte.«
Sie kam der Aufforderung nach, und er legte zwei Finger an ihr Handgelenk.
»Wozu.?«
»Pst. Ich fühle Ihren Puls.«
Kurz darauf lehnte er sich wieder zurück. »Meine Diagnose ist korrekt.«
»Hinsichtlich der Arthritis, meinen Sie?«
»Die Arthritis ist bloß ein Symptom. Nach unserer Überzeugung ist es falsch, nur die Symptome zu behandeln. Die Medizin sollte immer danach streben, für Harmonie zu sorgen und Ungleichgewichte zu beheben.«
»Und was ist bei mir im Ungleichgewicht?«
»Wir Chinesen mögen unsere Zahlen. Die fünf Segnungen, die fünf Opfertiere.«
»Die zehn Richter der Hölle«, sagte sie.
Er lachte. »Genau. Nun, in der Medizin haben wir liuyin: die sechs schädlichen Einflüsse, und zwar Feuchtigkeit, Wind, Feuer, Kälte, Trockenheit und Sommerhitze. Sie wirken sich auf die Organe des Körpers und das qi aus - die Lebenskraft -, ebenso wie auf das Blut und das Wohlbefinden. Sobald sie übermäßig oder in zu geringem Ausmaß auftreten, entsteht eine Disharmonie, die zu Problemen führt. Zu viel Feuchtigkeit muss ausgetrocknet werden. Zu viel Kälte bedarf der Wärme.«
Die sechs schädlichen Einflüsse, dachte sie. Das sollte ich mal in meine nächste Krankmeldung schreiben.
»Ihre Zunge und Ihr Puls verraten mir, dass Ihre Milz zu feucht ist. Das hat Arthritis zur Folge, neben einigen anderen Problemen.«
»Meine Milz?«, fragte sie skeptisch.
»Nicht das eigentliche Organ, wie man es aus der westlichen Medizin kennt«, erklärte er. »Wenn wir Milz sagen, meinen wir damit eines der inneren Systeme des Körpers.«
»Und was braucht meine Milz?«
»Weniger Feuchtigkeit«, antwortete Sung, als sei dies ganz offensichtlich. »Ich habe Ihnen etwas besorgt.« Er schob eine Tüte über den Tisch. Amelia öffnete sie und fand darin Kräuter und getrocknete Pflanzen. »Kochen Sie einen Tee damit, und trinken Sie ihn langsam über zwei Tage verteilt.« Er reichte ihr eine kleine Schachtel. »Das sind Qi Ye Lien Tabletten. Eine Art Kräuter-Aspirin. Die Dosierungsanleitung auf der Packung ist in englischer Sprache. Außerdem dürfte eine Akupunkturbehandlung sehr hilfreich sein. Ich habe dafür noch keine hier gültige Approbation, und ich möchte vor meiner Asyl-Anhörung keine Schwierigkeiten bekommen.«
»Das würde ich auch nie von Ihnen verlangen.«
»Aber ich kann Sie massieren. Ich glaube, bei Ihnen nennt man das Akupressur. Es ist sehr effektiv. Lassen Sie es mich Ihnen zeigen. Bitte beugen Sie sich vor, und legen Sie die Hände in den Schoß.«
Sung beugte sich ebenfalls vor, sodass der steinerne Affe über dem Tisch pendelte. Unter dem Hemd sah Sachs den frischen Verband der Schusswunde. Der Arzt suchte gezielt einige Stellen an Amelias Schultern und drückte für etwa fünf Sekunden fest mit den Fingerkuppen darauf. Dann nahm er sich die nächsten Punkte vor und tat dort das Gleiche.
Nach ungefähr einer Minute lehnte er sich zurück.
»Und jetzt heben Sie die Arme.«
Sie tat es und stellte fest, dass der Schmerz in ihren Gelenken deutlich nachgelassen hatte. »Es funktioniert«, sagte sie überrascht.
»Das hilft nur vorübergehend. Akupunktur wirkt wesentlich nachhaltiger.«
»Ich werde es mir überlegen. Vielen Dank.« Sie sah auf die Uhr. »Ich muss mich langsam auf den Weg machen.«
»Warten Sie«, bat Sung. »Ich bin mit meiner Diagnose noch nicht fertig.« Er nahm ihre Hand und untersuchte die abgebrochenen Nägel und die
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