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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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geschundene Haut. Normalerweise war Amelia sehr gehemmt, wenn es um ihre schlechten Angewohnheiten ging, aber bei diesem Mann empfand sie nicht die geringste Verlegenheit.
    »In China nehmen wir Ärzte die Patienten nicht nur in Augenschein und tasten sie ab, sondern reden auch viel mit ihnen, um die Ursache ihres Leidens zu bestimmen. Es ist unbedingt erforderlich, ihre Gemütsverfassung zu kennen - ob sie glücklich, traurig, beunruhigt, ehrgeizig oder frustriert sind.« Er sah ihr tief in die Augen. »In Ihnen herrscht noch eine andere Disharmonie. Sie wollen etwas, das Sie nicht bekommen können. Oder von dem Sie glauben, dass Sie es nicht bekommen können. Dadurch entstehen diese Probleme.« Er nickte mit Blick auf ihre Fingernägel.
    »Nach was für einer Art von Harmonie suche ich?«
    »Ich bin mir nicht sicher. Vielleicht nach einer Familie. Nach Liebe. Ich vermute, Ihre Eltern sind tot.«
    »Mein Vater.«
    »Und das war schwierig für Sie.«
    »Ja.«
    »Und Ihr Liebesleben? Hatten Sie kein Glück mit Ihren Partnern?«
    »In der Schule habe ich alle verscheucht - ich konnte schneller fahren als die meisten Jungs.«
    Das stimmte zwar, war aber als Scherz gemeint, doch Sung lachte nicht.
    »Reden Sie weiter«, ermutigte er sie.
    »In der Zeit als Fotomodell hatten die interessanten Männer Angst, mich um ein Rendezvous zu bitten.«
    »Weshalb sollte ein Mann vor einer Frau Angst haben?«, fragte Sung aufrichtig verwirrt. »Das ist ja, als würde das Yang Angst vor dem Yin haben. Oder der Tag vor der Nacht. Zwischen den beiden besteht doch kein Wettstreit; sie sollten sich ergänzen und einander erfüllen.«
    »Diejenigen, die sich getraut haben, mich anzusprechen, wollten meistens nur das eine.«
    »Ach, das.«
    »Ja, das.«
    »Sexuelle Energie ist sehr wichtig«, sagte Sung. »Sie gehört zu den wesentlichsten Teilen des qi, der Lebenskraft. Aber sie ist nur dann gesund, wenn sie einer harmonischen Beziehung entspringt.«
    Amelia musste sich ein Lachen verkneifen. Das wäre doch mal ein Spruch, den man am Abend der ersten Verabredung ausprobieren könnte: Bist du an einer harmonischen Beziehung interessiert?
    Sie nippte an ihrem Tee. »Dann habe ich eine Zeit lang mit einem Mann zusammengelebt. Einem von der Truppe.«
    »Der was?«, fragte Sung.
    »Ich will damit sagen, er war auch ein Polizist. Es war gut. Intensiv, herausfordernd, könnte man wohl behaupten. Wir haben uns auf dem Schießstand getroffen und um die Wette geballert. Leider wurde er später selbst verhaftet. Er hatte sich schmieren lassen. Wissen Sie, was das bedeutet?«
    »Ich habe mein ganzes Leben in China gelebt - selbstverständlich weiß ich, was Schmiergelder sind.« Sung lachte. »Und nun sind Sie also mit diesem Mann zusammen, mit dem Sie auch arbeiten.«
    »Ja.«
    »Womöglich ist das der Ursprung des Problems«, sagte er leise und schien sie noch eindringlicher zu mustern.
    »Wie kommen Sie denn darauf?«, fragte sie verunsichert.
    »Meiner Meinung nach sind Sie Yang - dieses Wort bezeichnet die von der Sonne beschienene Seite eines Berges. Yang steht für Klarheit, Bewegung, Zuwachs, Erweckung, Anfang, Weichheit, Frühling und Sommer, Geburt. Das sind ganz eindeutig Sie. Aber Sie scheinen in der Welt des Yin zu leben, das heißt auf der schattigen Seite des Berges. Sie steht für Innerlichkeit, Dunkelheit, Selbstbeobachtung, Strenge und Tod.
    Sie ist das Ende der Dinge, Herbst und Winter.« Er hielt inne. »Vielleicht liegt die Disharmonie in der Tatsache begründet, dass Sie sich nicht getreu Ihrer Yang-Natur verhalten. Sie haben zu viel Yin in Ihr Leben gelassen. Könnte das sein?«
    »Ich. ich bin mir nicht sicher.«
    »Ich habe gerade mit Lincoln Rhymes Arzt gesprochen.«
    »Ja?«
    »Und jetzt muss ich unbedingt mit Ihnen reden.«
    Ihr Mobiltelefon klingelte, und Amelia zuckte zusammen. Während sie nach dem Apparat griff, wurde ihr klar, dass noch immer Sungs Hand auf ihrem Arm lag.
    Er lehnte sich zurück, und sie nahm das Gespräch an. »Hallo?«
    »Officer, wo, zum Teufel, stecken Sie?« Es war Lon Sellitto.
    Die Antwort war ihr unangenehm, aber sie sah den Streifenwagen auf der anderen Straßenseite und hatte das Gefühl, die Kollegen könnten dem Detective bereits gemeldet haben, wo sie sich befand. »Bei John Sung, dem Zeugen.«
    »Warum?«
    »Ich wollte noch ein paar Dinge abklären.«
    Das war nicht mal gelogen, dachte sie. Nicht wirklich.
    »Nun, dann klären Sie gefälligst etwas schneller«, gab Sellitto barsch

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