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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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einer der Türken den Geist.
    »Keine Ahnung. Seine Frau schien krank zu sein. Man konnte doch sehen, wie mühsam sie sich dahingeschleppt hat. Vielleicht zu einem Arzt.«
    Der Geist beobachtete die Straße, schätzte die Entfernungen ab und registrierte vor allem die vielen Juweliergeschäfte hier an der Kreuzung Mulberry und Canal Street. Die Gegend wirkte wie eine kleinere Ausgabe des Diamantendistrikts in Midtown. Das gefiel ihm nicht. Es bedeutete, dass Dutzende von bewaffneten Sicherheitsbeamten in der Nähe waren - falls sie die Wus vor Ladenschluss umlegten, könnte einer von denen die Schüsse hören und nachsehen kommen. Und auch zu späterer Stunde blieb es ein riskantes Vorhaben: Auf die Bürgersteige waren unzählige Überwachungskameras gerichtet. Im Moment befanden er und die Türken sich noch außerhalb des Aufnahmebereichs, aber um zum Haus der Wus zu gelangen, blieb ihnen keine andere Wahl, als den Sichtkegel der Kameras zu betreten. Sie mussten sehr schnell vorgehen und dabei unbedingt die Skimasken tragen.
    »Ich weiß jetzt, wie wir die Sache anpacken werden«, sagte der Geist langsam auf Englisch. »Hört ihr mir zu?«
    Die drei Türken waren ganz Ohr.
    Nachdem ihre Eltern gegangen waren, kochte Wu Chin-Mei ihrem Bruder einen Tee und gab ihm dazu ein süßes Brötchen und etwas Reis. Sie dachte an die Ankunft in Chinatown und daran, wie sehr ihr Vater sie heute Morgen vor diesem gut aussehenden jungen Mann im Lebensmittelgeschäft in Verlegenheit gebracht hatte, als er um den Preis ihrer Einkäufe zu feilschen begann.
    Und das alles, um an Teegebäck und Nudeln ein paar Yuan zu sparen!
    Sie setzte den achtjährigen Lang mit seinem Essen vor den Fernseher und ging dann ins Schlafzimmer, um das durchgeschwitzte Bett ihrer Mutter neu zu beziehen.
    Vor dem Spiegel blieb sie stehen. Ihr gefiel, was sie sah: ihr langes schwarzes Haar, die geschwungenen Lippen, die tief liegenden Augen.
    Schon mehr als einmal hatte man ihr große Ähnlichkeit mit der Schauspielerin Lucy Liu bescheinigt, und Chin-Mei teilte diese Überzeugung. Nun ja, noch besser würde sie natürlich aussehen, wenn sie ein paar Pfund abspeckte - und ihre Nase korrigieren ließ. Und dann diese lächerlichen Klamotten! Ein blassgrüner Trainingsanzug. abscheulich. Kleidung war sehr wichtig für Wu Chin-Mei. Sie und ihre Freundinnen hatten sich im Fernsehen keine einzige der Modenschauen aus Peking, Hongkong und Singapur entgehen lassen und bewundernd die hoch gewachsenen Mannequins angestarrt, die mit schwingenden Hüften über den Laufsteg geschritten waren. Die dreizehn- und vierzehnjährigen Mädchen hatten alles nachgespielt und ihre eigenen Modenschauen inszeniert, waren unbeholfen auf und ab stolziert und hatten sich hinter einem Wandschirm umgezogen.
    Einmal, noch bevor ihr Vater sich mit seinem vorlauten Mundwerk den Zorn der Partei zugezogen hatte, war die ganze Familie nach Xiamen, südlich von Fuzhou, gefahren. Es war eine herrliche Stadt, eine Touristenattraktion, die viele taiwanesische und westliche Reisende anzog. Als ihr Vater in einem Tabakladen Zigaretten kaufte, entdeckte Chin-Mei in den Regalen mehr als dreißig verschiedene Modezeitschriften. Sie war völlig überwältigt und blieb eine halbe Stunde dort, während ihr Vater etwas Geschäftliches erledigte und ihre Mutter mit Lang in einen Park ging. Chin-Mei blätterte jedes der Hefte durch. Die meisten Titel stammten aus dem Westen, viele aber auch aus Peking oder anderen Städten, die in den Freihandelszonen entlang der Küste lagen; die Kreationen der chinesischen Modeschöpfer wirkten genauso elegant wie die Kleider aus Mailand oder Paris.
    Sie hatte vorgehabt, eine Modeschule in Peking zu besuchen, um selbst eine berühmte Designerin zu werden - und zuvor vielleicht ein oder zwei Jahre als Fotomodell zu arbeiten.
    Doch nun hatte ihr Vater alles ruiniert.
    Sie ließ sich auf die Matratze fallen und zerrte wütend an dem Synthetikstoff ihres billigen Jogginganzugs. Am liebsten hätte sie ihn in kleine Fetzen gerissen.
    Was sollte sie jetzt mit ihrem Leben anfangen?
    Vermutlich würde sie in irgendeiner Fabrik arbeiten und schäbige Klamotten wie diesen Anzug zusammennähen müssen. Die zweihundert Yuan Monatseinkommen durfte sie ihren jämmerlichen Eltern überlassen und das womöglich für den Rest ihres Lebens.
    So würde ihre Karriere in der Modebranche aussehen. Eine Lohnsklavin. Sie würde.
    Ein lautes Klopfen an der Tür holte sie aus ihren

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