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Das Gesicht des Drachen

Das Gesicht des Drachen

Titel: Das Gesicht des Drachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeffery Deaver
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einfach sterben lassen.«
    Chang Jiechi überlegte eine Weile. »Also gut«, sagte er schließlich. »Aber du gehst nicht selbst. Ruf noch einmal diese Frau an. Sag ihr, sie soll Wu warnen.«
    Chang nahm den Hörer und wählte die Nummer. Als sich die Frau aus Mahs Büro meldete, bat er sie, Wu etwas auszurichten. »Sagen Sie ihm, er muss sofort ausziehen. Er und seine Familie befinden sich in großer Gefahr. Werden Sie ihm das mitteilen?«
    »Ja, ja«, sagte sie, wirkte dabei aber dermaßen geistesabwesend, dass Chang nicht wusste, ob sie ihm überhaupt zugehört hatte.
    Sein Vater schloss die Augen und legte sich wieder auf die Couch. Chang wickelte ihm die Decke um die Füße. Der alte Mann würde schon sehr bald einen Arzt aufsuchen müssen.
    So viel zu tun, so viele Vorkehrungen zu treffen. Die Hoffnungslosigkeit war für einen Augenblick schier überwältigend. Er dachte an das Amulett, das Dr. John Sung trug - an den Affenkönig. Im Frachtraum des Schiffs hatte Sung den kleinen Ronald damit spielen lassen und ihm Geschichten über den Affen erzählt. In einer davon wollten die Götter ihn für seine Unverschämtheit bestrafen und ließen einen Berg über ihm zusammenstürzen. So fühlte Sam Chang sich in diesem Moment - als würden tonnenweise Angst und Ungewissheit auf ihm lasten.
    Aber dann fiel sein Blick auf seine Familie, und die Last schien etwas leichter zu werden.
    William lachte über etwas im Fernsehen; falls Chang sich nicht täuschte, ließ sein Ältester zum ersten Mal an diesem Tag weder Zorn noch Verbitterung erkennen, sondern lachte aus vollem Herzen über die alberne Sendung. Ronald auch.
    Chang betrachtete seine Frau, die vollauf mit Po-Yee beschäftigt war. Wie gut sie doch mit Kindern umgehen konnte. Chang hingegen hatte noch nie über die nötige Unbefangenheit verfügt. Er musste immer genau abwägen, was er sagte - und konnte sich oft nicht entscheiden, ob er streng oder nachsichtig sein sollte.
    Mei-Mei schaukelte das Kind auf ihren Knien und brachte es zum Kichern.
    In China hofften die meisten Familien inständig auf einen Sohn, der den Familiennamen weitergeben konnte (das Ausbleiben eines männlichen Erben galt sogar traditionell als Scheidungsgrund). Natürlich war Chang hocherfreut über die Geburt Williams und später Ronalds gewesen, weil er so seinem Vater stolz verkünden konnte, dass die Chang-Linie fortbestehen würde. Doch Mei-Mei hatte sich stets eine Tochter gewünscht, und ihr Kummer war nicht spurlos an Chang vorübergegangen. So hatte er sich letztlich in einer seltsamen Position wiedergefunden - zumindest für einen chinesischen Mann seines Alters: Er hatte sich ein Mädchen gewünscht, sollte Mei-Mei wieder schwanger werden. Da er ohnehin schon als Dissident verfolgt wurde und die Ein-Kind-Regel bereits missachtet hatte, konnte die Partei ihm bei einem dritten Kind kaum noch mit weiteren Sanktionen drohen; er hatte nichts dagegen, seiner Frau eine Tochter zu schenken.
    Aber während der Schwangerschaft mit Ronald war sie sehr krank geworden und hatte nach der Entbindung Monate gebraucht, um sich zu erholen. Sie war eine schmale Frau und nicht mehr die Jüngste, und die Ärzte drängten sie, um ihrer Gesundheit willen keine weiteren Kinder zu bekommen. Sie hatte dies gleichmütig akzeptiert, genauso wie sie Changs Entscheidung akzeptiert hatte, in das Schöne Land auszuwandern, obwohl durch ihren Status als illegale Einwanderer praktisch ausgeschlossen war, dass sie jemals eine Tochter würden adoptieren können.
    Aus all dieser schrecklichen Not war jedoch anscheinend etwas Gutes erwachsen, um die Entbehrungen auszugleichen. Die Götter, das Schicksal oder der Geist eines ihrer Ahnen hatte ihnen Po-Yee gegeben - die Tochter, die sie niemals haben konnten - und seiner Frau zu innerer Harmonie verholfen.
    Yin und Yang, Dunkelheit und Licht, Frau und Mann, Freud und Leid.
    Verlust und unverhoffte Gabe.
    Chang stand auf, ging zu seinen Söhnen und setzte sich neben sie, um mit ihnen die Fernsehsendung zu verfolgen. Er bewegte sich sehr langsam und leise, als könnte jede hastige Bewegung den zarten Familienfrieden wieder zerstören - so wie ein Stein, der in der Stille des frühen Morgens die spiegelglatte Oberfläche eines Teichs durchschlug.
     
     
    DRITTER TEIL
    DAS VERZEICHNIS DER LEBENDEN
    UND DER TOTEN
    Dienstag, von der Stunde des Hahns, 18.30 Uhr, bis zur Stunde der Ratte, 1.00 Uhr, am Mittwoch.
    Zu Anfang einer jeden Partie Wei-Chi  sitzen die beiden Spieler

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