Das Gesicht des Fremden
Runcorns Blick.
»Sie mögen sich vielleicht nicht mit mir auskennen, Sir, ich hingegen schon. Schließlich sind die wenigsten von uns so unkompliziert, wie es nach außen hin scheint. Vermutlich bin ich einfach besonnener, als Sie angenommen haben – und das ist gut so!« Er kostete genüßlich den letzten Moment vor der großen Enthüllung aus, wenn er auch nicht ganz die erwartete Süße besaß. Dann sah er Runcorn direkt in die Augen.
»Eigentlich bin ich hier, um Sie darüber zu informieren, daß in Greys Wohnung eingebrochen wurde. Zwei Männer, die sich als Polizisten ausgegeben haben, haben alles auf den Kopf gestellt und ein paar wertvolle Gegenstände mitgehen lassen. Die Dienstausweise, die sie dem Portier gezeigt haben, müssen von einem Experten stammen.«
Runcorns Gesicht erstarrte; auf seiner Haut erschienen rote Flecken. Monk konnte der Versuchung nicht widerstehen, dem Ganzen noch eins draufzusetzen.
»Das wirft ein völlig neues Licht auf die Angelegenheit, finden Sie nicht?« fügte er fröhlich hinzu, als wäre es für sie beide tatsächlich ein Grund zur Freude. »Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, daß Lord Shelburne zusammen mit einem gedungenen Komplizen den Peeler spielt und die Wohnung seines Bruders durchsucht.«
Die wenigen Sekunden hatten Runcorn genug Zeit zum Nachdenken verschafft.
»Dann hat er eben zwei Männer angeheuert. Ist doch klar!« Doch damit hatte Monk gerechnet. »Wenn Shelburne auf etwas aus war, das ein dermaßen großes Risiko gerechtfertigt hätte«, konterte er, »warum hat er es sich dann nicht früher geholt? Es würde sich mittlerweile schon seit zwei Monaten in der Wohnung befinden.«
»Welches große Risiko?« Runcorns Stimme war deutlich anzuhören, wie absurd er die Idee fand. »Sie haben’s doch phantastisch eingefädelt – es muß ein Kinderspiel gewesen sein. Sie brauchten nichts weiter zu tun, als das Haus ein bißchen im Auge zu behalten, um sicherzugehen, daß die echte Polizei nicht da war. Dann sind sie mit ihren gefälschten Papieren hineinspaziert, haben sich geholt, was sie wollten, und sind wieder verschwunden. Ich wette, die haben sich hinterher ordentlich ins Fäustchen gelacht.«
»Ich dachte eigentlich nicht an die Gefahr, während des Einbruchs geschnappt zu werden«, sagte Monk spöttisch. »Mir schwebte das Risiko vor, daß Shelburne eingehen würde, indem er sich potentiellen Erpressern in die Hände gibt.«
Runcorns Gesichtsausdruck verriet, zu Monks heimlicher Freude, daß er daran nicht gedacht hatte.
»Er blieb natürlich anonym«, versuchte er den Gedanken abzutun.
Monk lächelte süß. »Wenn das, was er suchte, so wertvoll war, daß er ein paar Einbrecher und einen erstklassigen Fälscher dafür bezahlt hat, kann sich auch ein nicht besonders schlauer Dieb ausrechnen, daß es sicher auch wichtig genug ist, den Preis dafür ein wenig in die Höhe zu treiben. Ganz London weiß, daß in dieser Wohnung ein Mord geschah. Was immer sich dort befand, müßte wirklich vernichtend gewesen sein.«
Runcorn starrte wütend auf die Tischplatte. Monk wartete geduldig.
»Und? Was haben Sie vorzuschlagen? Irgendwer hat was gesucht. Oder behaupten Sie im Ernst, es war ein Gelegenheitsdieb, der mal schnell sein Glück versuchen wollte?« Runcorns Stimme triefte vor Verachtung; er schürzte angewidert die Lippen.
Monk ignorierte die Frage und meinte statt dessen: »Ich werde herausfinden, was so begehrt gewesen ist.« Er schob den Stuhl zurück und stand auf. »Vielleicht ist es etwas, das wir bis jetzt völlig übersehen haben.«
»Da müßten Sie aber ein verdammt guter Detektiv sein, wenn Sie das schaffen wollen!« Der triumphierende Ausdruck kehrte in Runcorns Augen zurück.
»Oh, das bin ich«, gab er ungerührt zurück. »Dachten Sie, das hätte sich auch geändert?«
In Wirklichkeit hatte er keine Ahnung, wo er beginnen sollte. Er hatte sämtliche Kontakte vergessen. Selbst wenn ihn ein Hehler oder ein Informant auf offener Straße anrempeln würde, würde er ihn nicht erkennen. Die Kollegen konnte er auch nicht fragen. Wenn Runcorn ihn schon haßte, war mehr als wahrscheinlich, daß viele von ihnen es ebenfalls taten. Sich so verwundbar zu zeigen, würde förmlich dazu einladen, ihm den Gnadenstoß zu versetzen. Runcorn wußte, daß er das Gedächtnis verloren hatte, soviel stand fest, auch wenn er es lediglich mit doppeldeutigen Anspielungen hatte durchblicken lassen. Es bestand jedoch eine gute Chance, diesen
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