Das Gesicht des Fremden
und zwar mehr als einmal.
Evan stand neben ihm und wartete, verwundert, daß er stehengeblieben war. Monk versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen und herauszufinden, wer diesen Stock wo und wann gehalten hatte. Er erreichte lediglich, daß sich das prickelnde Gefühl der Vertrautheit verstärkte – genau wie das der Angst.
»Sir?« Evan klang eine Spur argwöhnisch. Er verstand nicht, weshalb ihr Aufbruch so plötzlich zum Erliegen gekommen war. Sie standen beide wie angewurzelt in der Diele, und die einzige Erklärung dafür befand sich in Monks Kopf. Doch sosehr er sich auch anstrengte – er sah nichts als den Stock, nicht einmal die Hand, die ihn hielt.
»Ist Ihnen noch etwas eingefallen, Sir?« riß ihn Evans Stimme aus seinen Gedanken.
»Nein.« Wenigstens konnte er sich wieder bewegen.
»Nichts.« Er suchte verzweifelt nach einer Erklärung für sein sonderbares Benehmen. »Ich habe nur überlegt, wie wir’s am besten angehen. Grimwade konnte die Namen auf diesen Dienstausweisen nicht entziffern, sagen Sie?«
»Ja. Allerdings hätten sie wohl kaum ihre richtigen Namen benutzt, oder?«
»Nein, ganz bestimmt nicht, aber dann wüßten wir immerhin, welche Namen der Fälscher verwendet hat.« Das war keine allzu intelligente Frage gewesen, aber wenigstens klang sie halbwegs plausibel. Evan schien eine Art Lehrer in ihm zu sehen und sog jedes seiner Worte begierig auf. »Fälscher gibt’s in London wie Sand am Meer«, sagte er mit Nachdruck, als wüßte er genau, wovon er sprach, und als wäre es tatsächlich von Bedeutung.
»Und ich wage zu behaupten, daß in den vergangenen vierzehn Tagen sicher mehr als einer falsche Polizeipapiere ausgestellt hat.«
»Klar. Hätte ich auch selbst draufkommen können.« Evan war zufriedengestellt. »Ich hab Grimwade auch schon nach den Namen gefragt, als ich noch gar nicht wußte, daß es Einbrecher waren, aber er hat nicht darauf geachtet. War wohl mehr an dem Abschnitt über die Befugnis interessiert.«
»Macht nichts.« Monk hatte sich wieder unter Kontrolle. Er öffnete die Wohnungstür und ging hinaus. »Der Name des Reviers reicht wahrscheinlich vollkommen aus.« Evan folgte ihm, zog die Tür hinter sich zu und schloß ab.
Als sie auf der Straße standen, änderte Monk seine Meinung. Er wollte Runcorns Gesicht sehen, wenn er ihm von dem Einbruch erzählte und wenn ihm langsam dämmerte, daß Monk, auch ohne schmutzige Skandale aufzudecken, Greys Mörder finden konnte. Plötzlich hatte sich ein völlig neuer Weg aufgetan, der sich schlimmstenfalls als Fehlschlag erweisen konnte – aber es bestand eine reelle Chance auf Erfolg.
Er versorgte Evan mit einem belanglosen Auftrag und der Anweisung, sich in einer Stunde wieder mit ihm zu treffen, und ließ sich in einem Hansom durch das lärmende, sonnenüberflutete London zum Revier kutschieren. Runcorn war in seinem Büro. Ein hämischer Ausdruck trat in sein Gesicht, als er Monk hereinkommen sah.
»Morgen, Monk«, begrüßte er ihn gutgelaunt. »Nichts Neues, wie ich sehe?«
Monk gab sich ganz seinem inneren Hochgefühl hin. Er fühlte sich wie jemand, der langsam in ein heißes Bad steigt, Zentimeter für Zentimeter, um jeden Moment in vollen Zügen zu genießen.
»Dieser Fall steckt wirklich voller Überraschungen«, erwiderte er nichtssagend und sah Runcorn mit gespielter Besorgnis an.
Runcorns Gesicht verdüsterte sich, aber Monk konnte seinen heimlichen Triumph förmlich riechen.
»Fatalerweise kann sich die Öffentlichkeit für unser Staunen nicht viel kaufen«, versetzte er und badete seinerseits in freudiger Erwartung. »Ihre Verwirrung gibt uns in den Augen der Bevölkerung noch lange nicht das Recht, es ebenfalls zu sein. Sie machen nicht genug Druck, Monk.« Er runzelte kaum merklich die Stirn und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Das durchs Fenster einfallende Sonnenlicht legte sich wie ein breiter Balken über sein Profil. »Sind Sie wirklich wieder ganz auf dem Damm?« fragte er mit vor Anteilnahme triefender Stimme. »Sie scheinen nicht mehr der alte zu sein. Früher waren Sie nicht so«
– er lächelte genießerisch – »so zaghaft. Gerechtigkeit war Ihr oberstes Ziel, Ihr einziges sogar! Ich hab noch nie erlebt, daß Sie vor irgendwas zurückgeschreckt sind, auch nicht vor den übelsten Ermittlungen.« Irgendwo tief in Runcorns Augen regten sich Zweifel. Er pendelte wie ein Anfänger auf dem Fahrrad mühsam zwischen Kühnheit und praktischer Erfahrung hin und her. »Sie glauben
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