Das Gesicht des Fremden
gefährlichen Mitwisser so lange in Schach zu halten, bis er wieder über genügend Erinnerungen und Knowhow verfügte, um es mit allen aufnehmen zu können. Wenn es ihm gelang, den Mordfall Grey aufzuklären, war er unangreifbar – und dann konnte Runcorn erzählen, was er wollte.
Wie sollte er es anstellen, die Einbrecher aufzuspüren? Sosehr er Evan mochte – und er tat es jeden Tag mehr, denn der Mann war begeisterungsfähig und liebenswürdig, hatte Humor und ein durch und durch reines Herz, um das Monk ihn beneidete –, er durfte sich ihm auf keinen Fall auf Gedeih und Verderb ausliefern, indem er ihm die Wahrheit sagte. Und wenn er ehrlich sein sollte (zugegeben, ein bißchen Eitelkeit war auch dabei), war Evan außer Beth der einzige Mensch, der nichts gegen ihn zu haben schien, der ihn allem Anschein nach sogar gern hatte. Das durfte er sich nicht verscherzen.
Evan konnte er nicht um die Namen der Hehler und Informanten bitten, er mußte sie auf eigene Faust in Erfahrung bringen. Aber wenn er tatsächlich so ein guter Detektiv gewesen war, wie alle Anzeichen vermuten ließen, kannte er eine Menge, und die würden sich an ihn erinnern.
Monk war spät dran, und Evan wartete bereits. Er entschuldigte sich – zu Evans Überraschung – und wurde sich erst hinterher bewußt, daß ein Vorgesetzter etwas Derartiges nicht nötig hatte. Wenn er sein Vorhaben und sein Unvermögen geheimhalten wollte, mußte er vorsichtiger sein. Er hatte die Absicht, das Mittagessen in einem der billigen Eßlokale zu sich zu nehmen, die als beliebte Treffpunkte der Unterwelt galten. Vielleicht meldete sich jemand bei ihm, wenn er dem Wirt gegenüber eine entsprechende Bemerkung fallenließ. Es würde zwar einige Zeit dauern, bis er sämtliche Läden abgeklappert hatte, doch nach drei oder vier Tagen sollte er zumindest einen Punkt gefunden haben, von dem er ausgehen konnte.
Monk erinnerte sich zwar weder an Namen noch Gesichter, das Ambiente dieser finsteren Kaschemmen war ihm jedoch bestens vertraut. Er wußte auf Anhieb, wie er sich zu benehmen hatte: wie ein Chamäleon die Farbe wechseln und mit hängenden Schultern durch die Gegend schlurfen, den wachsamen Blick vermeintlich auf den Boden gerichtet. Man erkannte einen Menschen nicht an seiner Kleidung; jeder Falschspieler und Betrüger, jeder gute Taschendieb und jedes Mitglied der Londoner Hochstaplergilde konnte sich ebensogut kleiden wie die meisten anderen. Hatte der Pfleger im Krankenhaus nicht sogar ihn für einen Hochstapler gehalten?
Evan mit seinem netten Gesicht und dem offenen, humorvollen Blick sah allerdings viel zu sauber aus, um als Gauner durchzugehen. Er hatte nicht das geringste von der Verschlagenheit eines Überlebenskünstlers, wenn auch einige Vertreter dieser Spezies ausgesprochen geschickt waren, was die Vorspiegelung falscher Tatsachen betraf, und das unschuldigste Gesicht besaßen, das man sich vorstellen konnte. In der Unterwelt war genug Raum für Lügner und Betrüger aller Variationen; es gab keine menschliche Schwäche, aus der nicht Kapital geschlagen wurde.
Sie begannen westlich vom Mecklenburg Square und arbeiteten sich in Richtung King’s Cross Road vor. Als sich gleich die erste Wirtschaft als Fehlschlag entpuppte, schlugen sie sich nach Norden, zur Pentonville Road, dann wieder nach Südwesten bis Clerkenwell.
Trotz aller logischen Betrachtungen regte sich in Monk am zweiten Tag des Unternehmens allmählich das Gefühl, er sei vollkommen auf dem Holzweg und Runcorn würde schließlich doch als letzter lachen. Da glitt plötzlich – in einer Schenke, die sich »Zur grinsenden Ratte« nannte und aus allen Nähten platzte – ein schmuddeliger kleiner Mann neben sie auf die Sitzbank und entblößte mit einem argwöhnischen Seitenblick auf Evan feixend eine Reihe gelbbrauner Zähne. Es herrschte ein ziemliches Getöse, und über allem hing ein strenger Geruch von Bier, Schweiß, schmutziger Kleidung, Körpern, bei denen ein Bad längst überfällig war, und dampfendem Essen. Der Fußboden war mit Sägemehl bedeckt, unablässig ertönte das Klirren aneinandergestoßener Gläser.
»Hallo, Mr. Monk. Lang nich mehr gesehen. Wo waren Se denn die ganze Zeit?«
Monk wurde von heftiger Erregung erfaßt, gab sich jedoch alle Mühe, es zu verbergen.
»Hatte einen Unfall«, sagte er bewußt gleichgültig.
Der Mann musterte ihn kritisch von oben bis unten und tat sodann mit einem Grunzen kund, daß ihn das Thema nicht weiter
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