Das Gesicht des Fremden
gerade aus dem Krankenhaus gekommen war. Es waren ungewöhnliche Augen gewesen, genau wie Grimwade gesagt hatte: durchdringend, klar und grau, beinah hypnotisch. Doch weder er noch Grimwade waren auf die Idee verfallen, in dem ernsten Polizistenblick das eisige Starren jenes unglückseligen Fremden wiederzuerkennen.
Es ließ sich nicht leugnen: Er war in Grey’s Wohnung gewesen. Anscheinend hatte er auch genau gewußt, wo der Mann wohnte, denn gefolgt war er ihm nicht. Aber warum in Gottes Namen hatte er ihn so sehr gehaßt, daß er völlig den Verstand verlor, alles vergaß, was er im Leben gelernt und geschätzt hatte, und wie ein Wahnsinniger auf ihn eindrosch, selbst als er längst tot war?
Das Gefühl der Angst war ihm nicht neu. Er erinnerte sich dunkel an die lähmende Furcht, die der Anblick des Meeres bei ihm ausgelöst hatte, wenn sich seine finstren Eingeweide auftaten, um Menschen und Schiffe, ganze Küstenstriche zu verschlingen. Das Brüllen des Ozeans begleitete seine Kindheitserinnerungen wie ein düsteres Echo.
Und später dann die Angst in den dunklen Gassen Londons, die Angst in den Rookeries. Selbst heute noch bekam er eine Gänsehaut, wenn er an die dortigen Zustände dachte, an den Hunger und die Mißachtung des menschlichen Lebens, wenn es darum ging, die eigene Haut zu retten. Er war wohl zu stolz und zu ehrgeizig gewesen, um feige zu sein, und hatte sich ohne Gewissensbisse geholt, was er wollte.
Aber wie stellte man sich dem Unbekannten, der Finsternis und dem Grauen seiner eigenen Seele?
Er hatte so manches an sich entdeckt, das ihm nicht gefiel: Unsensibilität, übertriebenen Ehrgeiz, eine gewisse Skrupellosigkeit doch mit all dem wurde er fertig; solche Dinge konnte er wiedergutmachen, versuchen abzulegen, womit er im Grunde schon begonnen hatte.
Aber weshalb sollte er Joscelin Grey getötet haben? Je mehr er es zu verstehen versuchte, desto unbegreiflicher wurde es. Warum sollte ihm der Mann so wichtig gewesen sein? Es gab nichts, gar nichts, das eine derart heftige Gemütsregung rechtfertigte.
Daß er verrückt war, konnte er nicht glauben. Wie auch immer, er hatte nicht etwa einen x-beliebigen Fremden auf offener Straße überfallen, er hatte es speziell auf Grey abgesehen gehabt und das Risiko auf sich genommen, zu ihm nach Hause zu gehen; und selbst Verrückte haben ihre Gründe, wie verzerrt sie auch sein mögen.
Er mußte das Motiv herausfinden, schon seinem eigenen Seelenfrieden zuliebe – und zwar bevor Runcorn es tat.
Nur würde es nicht Runcorn sein, sondern Evan.
Die Kälte in ihm wurde stärker. Das war eine der schlimmsten Vorstellungen: der Moment, in dem Evan klar wurde, daß er Grey ermordet hatte, daß er der Mörder war, der sie beide mit solchem Grauen, mit solchem Abscheu vor seinem bestialischen Werk erfüllt hatte. Der Mörder war ein Monster aus einer anderen Welt für sie gewesen, eine unmenschliche Kreatur, denn nur ein Unmensch war zu einer solchen Tat fähig. Was Evan betraf, würde sich daran nichts ändern, wohingegen Monk es nicht länger als fremd und unbegreiflich abtun und vergessen konnte. Er mußte mit dieser Deformation und Perversion seiner selbst leben.
Er nahm sich vor, noch ein wenig zu schlafen; die Uhr auf dem Kaminsims zeigte dreizehn Minuten nach vier. Aber nach dem Aufstehen würde er mit einer vollkommen neuen Ermittlung beginnen – er würde alles menschenmögliche tun, um herauszufinden, weshalb er Joscelin Grey ermordet hatte. Und er würde Evan zuvorkommen.
Als er am nächsten Morgen in sein Büro kam, war er nicht darauf gefaßt, Evan zu begegnen, doch das würde er in Zukunft wohl nie mehr sein.
»Guten Morgen, Sir«, sagte Evan fröhlich.
Monk erwiderte den Gruß, hielt das Gesicht jedoch abgewandt, so daß Evan den Ausdruck darin nicht sehen konnte.
Es fiel ihm schwer zu lügen – aber das würde er von nun an Tag für Tag tun müssen.
»Ich hab mir ein paar Gedanken gemacht, Sir.« Evan schien nichts Ungewöhnliches zu bemerken. »Wir sollten uns erst mal die restlichen Leute vornehmen, ehe wir Lord Shelburne öffentlich beschuldigen. Joscelin Grey könnte sehr gut auch mit andren Frauen Affären gehabt haben. Dawlishs haben zum Beispiel eine Tochter, dann wäre da noch Fortescues Frau, und Charles Latterly ist vielleicht auch verheiratet.«
Monk erstarrte. Er hatte vollkommen vergessen, daß Evan Charles’ Brief in Greys Schreibtisch gefunden hatte. Dummerweise war er davon ausgegangen, daß Evan nichts über
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