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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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die Latterlys wußte.
    »Sir?« riß ihn Evans sanfte Stimme aus seinen Gedanken; sie klang besorgt.
    »Sie haben recht«, stimmte Monk ihm hastig zu. Er durfte jetzt nicht die Nerven verlieren. »Ja, ich glaube, das wäre besser.«
    Wie scheinheilig von ihm, Evan loszuschicken, um im Rahmen einer Mördersuche die heimlichen Schwachpunkte aus unschuldigen Menschen herauszupressen. Was würde Evan wohl denken, fühlen, wenn er herausfand, daß Monk dieser Mörder war?
    Evan brach das Schweigen. »Soll ich mit Latterly anfangen, Sir? Über ihn wissen wir noch gar nichts.«
    »Nein!«
    Evan machte ein bestürztes Gesicht.
    Monk riß sich zusammen. Seine Stimme klang wieder ruhig, aber er riskierte es nicht, Evan anzuschauen.
    »Ich kümmere mich um die Recherchen hier in London. Sie fahren bitte nach Shelburne Hall.« Um etwas Zeit zu gewinnen, war es dringend erforderlich, Evan für eine Weile aus der Stadt zu entfernen. »Versuchen Sie noch mal Ihr Glück bei den Dienstboten. Am besten wär’s, Sie könnten sich mit dem Stubenmädchen anfreunden. Stubenmädchen sind schon früh auf den Beinen; sie bekommen alles mögliche mit, wenn die meisten Leute noch schlafen. Der Mörder könnte zwar auch jemand aus den anderen Familien sein, aber Shelburne ist nach wie vor unser Hauptverdächtiger. Einem Bruder vergibt man schwerer, daß er einen zum Hahnrei gemacht hat, als einem Fremden, denn das ist nicht nur eine Beleidigung, es ist Verrat – außerdem wird man durch seine Anwesenheit ständig daran erinnert.«
    »Glauben Sie wirklich, Sir?« Evan schien überrascht.
    O Gott. Konnte er so schnell Verdacht geschöpft haben? Monk brach der kalte Schweiß aus.
    »Ist es nicht genau das, was Mr. Runcorn glaubt?« fragte er zurück. Vor lauter Anstrengung, seiner Stimme einen beiläufigen Klang zu geben, war sie ganz rauh. Er fühlte sich schrecklich isoliert; sein grausiges Geheimnis machte jeden zwischenmenschlichen Kontakt unmöglich.
    »Schon, Sir.« Er wußte, daß Evan ihn verwirrt anstarrte. »Das stimmt, aber er könnte sich doch irren. Er will Sie nur soweit bringen, Shelburne zu verhaften.« Zum erstenmal gab Evan klar und deutlich zu erkennen, daß er Runcorns Spiel durchschaute. Monk war so verblüfft, daß er aufsah, was er jedoch auf der Stelle bereute. Evans besorgter Blick war scheußlich direkt.
    »Tja, das wird ihm nicht gelingen – jedenfalls nicht, bevor ich sichere Beweise habe«, sagte Monk langsam. »Und deshalb fahren Sie nach Shelburne Hall; versuchen Sie, welche zu finden. Aber gehen Sie behutsam vor – sperren Sie die Ohren auf, und lassen Sie vor allem keine Andeutungen fallen!«
    Evan zögerte.
    Monk schwieg. Ihm war nicht nach reden zumute.
    Als Evan verschwunden war, ließ Monk sich auf seinem Stuhl zurücksinken. Er schloß die Augen. Die Zukunft sah noch schwärzer aus, als er sie sich vergangene Nacht vorgestellt hatte. Evan hatte an ihn geglaubt, ihn gemocht. Auf eine kräftige Ernüchterung folgte für gewöhnlich erst Mitleid, dann Haß.
    Und Beth? So weit oben in Northumberland blieb ihr die schreckliche Wahrheit vielleicht erspart. Vielleicht fand er jemand, der ihr schreiben würde, er sei plötzlich gestorben. Nein, ihm zuliebe würde das bestimmt niemand tun, aber wenn er von ihren Kindern erzählte, wenn er alles erklären konnte, dann vielleicht um ihretwillen?
    »Eingeschlafen, Monk? Oder darf ich hoffen, Sie denken nach?« Runcorn. Seine Stimme triefte vor Sarkasmus.
    Monk schlug die Augen auf. Seine Karriere, seine Zukunft – alles war beim Teufel, aber einer der wenigen Vorteile, den das Ganze hatte, war, daß er keine Angst mehr vor Runcorn zu haben brauchte. Nichts, was Runcorn tun konnte, spielte noch eine Rolle, verglichen mit dem, was er sich selbst angetan hatte.
    »Ich denke nach«, erwiderte er kalt. »Meiner Meinung nach tut man das besser, bevor man einem Zeugen gegenübertritt, als wenn man bereits vor ihm steht. Ansonsten schweigt man wie ein Idiot, oder man rettet sich in blödsinnige Plattheiten, um die Lücken zu füllen.«
    »Oho, schon wieder Gesellschaftsspiele?« Runcorn hob die Brauen. »Es wundert mich, daß Sie für so was überhaupt Zeit haben.« Er stand direkt vor Monks Schreibtisch und wippte leicht auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. Eine davon ließ er plötzlich vorschnellen und hielt Monk streitlustig eine Tageszeitung unter die Nase. »Heute schon einen Blick in die Zeitung geworfen? In Stepney hat man eine Leiche gefunden –

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