Das Gesicht des Fremden
Treppe hinunterstieg, noch daß ihm der Regen ins Gesicht schlug, nachdem er an Grimwade vorbeigegangen war und auf der Straße stand. Die Gaslaternen brannten, in den Rinnsteinen gurgelte das Wasser.
Er stapfte blind vor sich hin und merkte erst, als er mit Schlamm bespritzt wurde und eine Kutsche in weniger als einem Schritt Entfernung an ihm vorbeiraste, daß er sich in der Doughty Street befand.
»He!« schrie ihm der Kutscher ins Gesicht. »Passen Se auf, wo Se hinlaufen! Oder wolln Se sich umbringen?«
Monk blieb stehen und sah zu ihm hoch. »Sind Sie besetzt?«
»Nee, Mann. Soll ich Sie wo hinfahrn? War vielleicht besser, sonst sind Se noch schuld an ’nem Unfall!«
»Ja«, stimmte Monk ihm zu, ohne sich vom Fleck zu rühren.
»Na los, steigen Se schon ein«, rief der Kutscher unwirsch, beugte sich etwas vor und beäugte ihn argwöhnisch. »Bei dem Wetter sollte man nich mal ’n Hund vor die Tür jagen, wirklich nich, ’n Kumpel von mir hat’s an so ’nem Abend bös erwischt, das arme Schwein. Erst is ihm der Gaul durchgegangen, und dann is auch noch die Kutsche umgekippt. Mausetot is er gewesen! Hat sich auf ’m Pflaster den Schädel eingeschlagen.
Seinen Fahrgast hat’s auch ganz schön gebeutelt, aber der is wieder in Ordnung, hab ich gehört. Mußten se natürlich ins Krankenhaus bringen. He – wollen Se die ganze Nacht da rumstehen, Mann? Was is, entweder Sie steigen ein, oder Sie lassen’s bleiben, aber entscheiden Se sich endlich!«
»Ihr Freund« – sagte Monk mit verzerrter Stimme, die klang, als käme sie von weit her – »wann ist der gestorben? Wann genau war dieser Unfall?«
»Juli war’s – und ’n richtiges Sauwetter! Hagelkörner im Juli, daß es ausgesehen hat, als wenn’s geschneit hätte. Nich zu fassen! Da fragt man sich wirklich, wo das mit ’m Wetter noch hinkommen soll!«
»Wann im Juli?« Monks Körper war eiskalt und absolut bewegungsunfähig.
»Nu machen Se mal, Mann«, säuselte der Kutscher, als hätte er einen Betrunkenen oder ein widerspenstiges Tier vor sich.
»Kommen Se aus dem Regen raus. Is doch furchtbar naß – Sie holen sich noch ’n Tod.«
»Wann?«
»Ich glaub, am vierten. Wieso? Jetzt haben Se mal keine Angst vor ’nem Unfall, ich paß schon auf. Ich fahr so vorsichtig, als ob Se meine Mutter wärn. Los, steigen Se ein!«
»Kannten Sie ihn gut?«
»Ja, Sir. War ’n Freund von mir. Kannten Se ihn auch? Sie wohnen doch hier, oder? Hat immer dieselbe Gegend abgeklappert, der arme Hund, und ’n letzten Fahrgast hat er hier aufgesammelt, genau wo wir jetzt stehn – steht jedenfalls im Fahrtenbuch. Hab ihn selbst noch an dem Abend gesehn, jawoll. Also, kommen Se jetzt, Sir, oder kommen Se nich? Hab nich die ganze Nacht Zeit. Aber wenn Se nur so zum Vergnügen hier rumlaufen, sollten Se besser jemand mitnehmen – so sind Se nämlich nich sicher.«
In dieser Straße. Der Kutscher hatte ihn, Monk, in dieser Straße aufgegriffen, weniger als hundert Meter vom Mecklenburg Square entfernt, in der Nacht, als Joscelin Grey ermordet wurde. Was hatte er hier zu suchen gehabt? Was?
»Is Ihnen schlecht, Sir?« Der Tonfall des Kutschers änderte sich plötzlich; er klang besorgt. »He – haben Se einen zuviel gekippt?« Er stieg vom Kutschbock und öffnete Monk die Tür.
»Nein, nein, mir geht’s gut.« Monk stieg gehorsam ein, während der Kutscher etwas über feine Herren murmelte, deren Familien besser auf sie aufpassen sollten, wieder auf den Bock kletterte und die Zügel auf den Rücken des Pferdes klatschen ließ.
In der Grafton Street angelangt, zahlte Monk ihn hastig aus und stürmte ins Haus.
»Mrs. Worley!« Stille.
»Mrs. Worley!« Seine Stimme war hart und rauh.
Sich die Hände an der Schürze trocknend, tauchte sie endlich auf.
»Gott im Himmel, Sie sind ja völlig naß – können bestimmt was Warmes zu trinken vertragen! Ziehen Se erst mal die nassen Sachen aus. Wie kann man sich nur so vollregnen lassen. Wo waren Se bloß wieder mit Ihren Gedanken!«
»Mrs. Worley.«
Der Klang seiner Stimme brachte sie zum Schweigen.
»Du liebe Zeit, Mr. Monk, was is denn passiert? Sie sehn ja ganz furchtbar aus!«
»Ich –« Wieder drangen die Worte wie aus weiter Ferne an sein Ohr. »Ich vermisse einen Spazierstock, Mrs. Worley. Haben Sie ihn vielleicht gesehen?«
»Nein, Mr. Monk, hab ich nich. Abgesehen davon is mir auch schleierhaft, was Sie bei so ’nem Wetter mit ’nem Stock wollen.
Was Sie brauchen, is ’n
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