Das Gesicht des Fremden
zweckdienlicher.
»Wie ich sehe, macht Ihnen etwas große Sorgen«, sagte sie ernst. »Bitte setzen Sie sich. Falls es mit Imogen zusammenhängt, wäre mir lieb, Sie vertrauen mir und sagen, worum es geht. Ich werde alles tun, damit die Angelegenheit so schmerzlos wie möglich geklärt werden kann. Imogen hat in letzter Zeit viel durchgemacht, genau wie mein Bruder. Was haben Sie herausgefunden, Mr. Monk?«
Er blickte forschend in die klugen, klaren Augen. Sie war eine bemerkenswerte Frau. Wieviel Mut mußte es gekostet haben, der Familie die Stirn zu bieten und mutterseelenallein zu einem der furchtbarsten Kriegsschauplätze der Welt zu segeln, um das eigene Leben und die eigene Gesundheit für die Verwundeten aufs Spiel zu setzen. Sicher hatte sie nur noch wenig Illusionen, und diese Vorstellung war plötzlich sehr tröstlich. Zwischen Imogen und ihm lagen unendlich viele unterschiedliche Erfahrungen: Grauen, Gewalt, Haß und Elend – alles außerhalb ihres Begriffsvermögens und von nun an sein ständiger Begleiter, die eigene Haut. Hester hatte Menschen in Extremsituationen erlebt, hatte einen Blick auf die nackte, ungeschützte Seele werfen können, die immer dann zum Vorschein kommt, wenn die Angst alles andere verdrängt und man die Maske ablegt, weil Verstellen keinen Sinn mehr hat.
Vielleicht war es ganz gut, daß er mit ihr sprechen mußte.
»Ich habe ein grundlegendes Problem, Miss Latterly.« Die Worte gingen ihm leichter über die Lippen als erwartet. »Weder Sie noch sonst jemand wissen die ganze Wahrheit über meine Ermittlungen im Mordfall Grey.«
Sie ließ ihn reden; sie wußte genau, wann sie zu schweigen hatte.
»Ich habe zwar nicht gelogen«, fuhr er fort, »aber ich habe ein wesentliches Detail ausgelassen.«
Hester wurde blaß. »Imogen betreffend?«
»Nein, überhaupt nicht. Abgesehen von dem, was sie mir selbst erzählt hat, weiß ich gar nichts über sie – nur daß Sie Joscelin Grey kannte und mochte und daß er als Freund Ihres Bruders George des öfteren hier war. Was ich Ihnen verschwiegen habe, betrifft mich selbst.«
Er sah den Anflug von Besorgnis auf ihrem Gesicht, kannte aber den Grund nicht. War es die Reaktion einer geschulten Krankenschwester, oder geschah es aus Angst um Imogen? Hielt sie etwas vor ihm zurück? Sie fiel ihm auch diesmal nicht ins Wort.
»Durch den Unfall, den ich hatte, bevor ich mit der Untersuchung des Falls anfing, gibt es eine ernste Komplikation, die ich bisher nicht erwähnt habe.« Einen schrecklichen Moment lang dachte er, sie würde vielleicht glauben, daß er lediglich Mitleid heischen wollte. Er spürte, wie ihm das Blut in die Wangen stieg. »Ich verlor das Gedächtnis. Total. Als ich im Krankenhaus zu mir kam, wußte ich nicht einmal meinen Namen.« Wie unbedeutend war dieser winzige Alptraum mittlerweile geworden! »Als ich dann wieder so weit auf den Beinen war, daß ich nach Hause konnte, war mir meine eigene Wohnung so fremd wie die eines Menschen, den ich noch nie im Leben gesehen hatte. Ich hatte keine Ahnung, welche Leute ich kannte, wie alt ich war, geschweige denn, wie ich aussah. Sogar mein Spiegelbild sagte mir nicht das geringste.«
Sie machte einen betroffenen Eindruck. Ihr Blick war sanft und mitfühlend; Monk konnte nicht die leiseste Spur von Verachtung oder Abgrenzung darin erkennen. Ihr Verständnis war viel angenehmer als alles, womit er gerechnet hatte.
»Das tut mir sehr leid«, sagte sie ruhig. »Jetzt wird mir auch klar, warum ein paar Ihrer Fragen so sonderbar geklungen haben. Sie mußten Schritt für Schritt herausfinden, was überhaupt passiert ist.«
»Miss Latterly – ich glaube, Ihre Schwägerin kam vor dem Unfall zu mir und bat mich, irgendwelche vertraulichen Nachforschungen für sie anzustellen, aber ich kann mich an nichts mehr erinnern. Vielleicht ging es dabei um Joscelin Grey. Wenn sie mir alles erzählen könnte, was sie über mich weiß, was ich zu ihr gesagt habe –«
»Aber wie könnte Ihnen das helfen, den Mord an Joscelin Grey aufzuklären?« Sie senkte plötzlich den Blick und betrachtete ihre im Schoß gefalteten Hände. »Denken Sie etwa, Imogen hätte etwas mit seinem Tod zu tun?« Ihr Kopf fuhr ruckartig hoch. »Glauben Sie, daß Charles ihn ermordet hat, Mr. Monk?«
»Nein – nein. Ich bin absolut sicher, daß er es nicht war.« Er konnte ihr unmöglich die Wahrheit sagen, aber er brauchte ihre Hilfe. »Ich habe Aufzeichnungen von mir gefunden, die noch aus der Zeit vor dem Unfall
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