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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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Regenschirm!«
    »Haben Sie ihn gesehen?«
    Matronenhaft stand sie vor ihm. »Seit dem Unfall nich mehr, nein. Meinen Se diesen dunklen? Den rotbraunen mit der Goldkette drumrum, den Se erst einen Tag vorher gekauft hatten? Schönes Stück, ja, aber wozu Sie so ’n Ding brauchen, werd ich mein Lebtag nich verstehn. Na, hoffentlich haben Se ihn nich verloren! Wenn doch, muß das bei dem Unfall passiert sein. Als Se weggegangen sind, hatten Se ihn nämlich dabei. Ich seh Sie noch richtig vor mir, stolz wie Oskar, ’n richtiger kleiner Dandy!«
    Das Blut rauschte in Monks Ohren. In die Finsternis um ihn herum bohrte sich ein winziger Gedanke, grell und schmerzhaft wie ein gewaltiger Blitz: Er war am Abend von Greys Tod in dessen Wohnung gewesen; es war sein eigener Stock, den er im Ständer in der Diele vergessen hatte. Er war der Mann mit den stechenden grauen Augen, den Grimwade um halb zehn hatte gehen sehen. Er mußte hineingegangen sein, als Grimwade Bartholomew Stubbs zu Yeats’ Wohnung brachte.
    Es gab nur einen logischen Schluß, grauenhaft und unsinnig, aber der letzte, der ihm blieb: Der Himmel wußte warum, aber er selbst hatte Joscelin Grey ermordet!

11
    Monk saß in seinem Lehnstuhl und starrte an die Decke. Obwohl es aufgehört hatte zu regnen und die Luft warm und klamm war, war ihm eiskalt.
    Warum?
    Ja, warum? Es war so unbegreiflich und unsinnig wie ein Alptraum, verworren und unentrinnbar.
    Er war an jenem Abend in Greys Wohnung gewesen. Irgend etwas mußte sich dort abgespielt haben, nach dem er in solcher Hast davongelaufen war, daß er den Stock vergessen hatte. In der Doughty Street war er von dem Kutscher aufgegriffen und dann, kaum einen Kilometer weiter, in einen Unfall verwickelt worden, der den Mann das Leben und ihn sein Gedächtnis gekostet hatte.
    Aber warum hätte er Grey töten sollen? In welcher Beziehung hatte er zu ihm gestanden? Bei den Latterlys konnte er ihn nicht kennengelernt haben, und in seinen Gesellschaftskreisen hatte er nicht verkehrt. Wenn Grey mit irgendeinem Fall in Verbindung gestanden hätte, würde Runcorn sich daran erinnern – außerdem wäre es vermutlich auch aus seinen eigenen Unterlagen hervorgegangen.
    Warum also? Warum den Mann umbringen? Man verfolgte einen Fremden nicht bis in seine Wohnung und prügelte ihn dann grundlos zu Tode – es sei denn, man war verrückt.
    War das der Schlüssel? Er war verrückt? Sein Gehirn hatte schon vor dem Unfall nicht mehr richtig funktioniert? Er erinnerte sich nicht an das Verbrechen, weil diese Greueltat von seinem anderen Ich begangen worden war und sein momentanes Ich nichts davon wußte, keine Ahnung von den Begierden und Trieben, nicht einmal von der Existenz des anderen Monk hatte? Und der Mörder war einzig und allein von seinem Gefühl regiert worden; von einem ultimativen, verzehrenden, verabscheuungswürdigen Gefühl – von abgrundtiefem Haß. War das möglich?
    Er mußte nachdenken. Logik war der einzige Weg, sich in diesem Chaos zurechtzufinden, einen Fluchtweg zu entdecken, der in die Welt der Vernunft zurückführte. Er begann jedes Detail zu untersuchen, Stück für Stück, wieder und wieder, ohne es wirklich glauben zu können.
    Die Minuten wurden zu Stunden, die Stunden gingen ins Morgengrauen über. Anfangs ging er ruhelos auf und ab, hin und her, vor und zurück, bis ihm die Beine weh taten, dann warf er sich in den Sessel und saß da wie erstarrt. Seine Hände und Füße waren mittlerweile so kalt, daß er sie kaum mehr spürte, der Alptraum dagegen noch so real und unsinnig wie vor ein paar Stunden. Er zermarterte sich das Hirn nach Erinnerungen von der Schulzeit bis zur Gegenwart, doch nirgends tauchte Joscelin Grey auf. Er stieß nicht auf das leiseste Motiv, auf keine Erklärung, entdeckte kein Fünkchen Wut, keine Eifersucht, keinen Haß, keine Furcht – nur die erdrückenden Beweise. Er war dort gewesen, und zwar als Grimwade wegen Bartholomew Stubbs einen Augenblick nicht auf seinem Posten gewesen war.
    Eine Dreiviertelstunde lang mußte er sich dort aufgehalten haben, und als er wieder ging, nahm Grimwade an, er wäre Stubbs. In Wirklichkeit mußte Stubbs auf der Treppe an ihm vorbeigekommen sein, als er kam und Stubbs ging. Grimwade hatte gesagt, der Mann wäre ihm beim Hinausgehen kräftiger und etwas größer vorgekommen, außerdem waren ihm besonders die Augen in Erinnerung geblieben. Monk dachte an die Augen, die ihn aus dem Schlafzimmerspiegel heraus angestarrt hatten, damals, als er

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