Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
das Sprechen noch schwerer gefallen.
    »Für Mama kam jede Hilfe zu spät – ihre ganze Welt war zusammengebrochen. Der jüngste Sohn tot, die Familie am Rand des finanziellen Ruins, ihr Mann ein Selbstmörder. Es war nicht nur sein Verlust, was sie quälte, sondern auch die beschämende Art und Weise, wie es geschehen war. Zehn Tage später folgte sie ihm ins Grab. Sie war seelisch gebrochen…« Hester konnte zum zweitenmal einige Minuten lang nicht weitersprechen. Monk ergriff wortlos ihre Hand und hielt sie ganz fest. Der Druck seiner Finger war so tröstlich wie der Rettungsring für einen Ertrinkenden.
    In der Ferne tollte ein Hund durchs Gras, ein kleiner Junge jagte einem Reifen hinterher.
    »Charles wußte nichts von Imogens Vorhaben – er hätte es nicht gebilligt. Deshalb hat sie es Ihnen gegenüber nicht noch einmal erwähnt, außerdem hatte sie natürlich keine Ahnung von Ihrem Gedächtnisverlust. Sie sagt, Sie hätten ihr zuerst alle möglichen Fragen über die Zeit vor dem Tod meines Vaters gestellt, dann, bei den späteren Treffen, über Joscelin Grey. Ich werde Ihnen möglichst genau wiedergeben, was sie mir erzählt hat.«
    Ein Paar in makellosen Reitkleidern galoppierte gemessen über die Row. Monk hielt weiterhin ihre Hand.
    »Meine Familie begegnete Joscelin Grey zum erstenmal im März. Keiner von ihnen hatte je zuvor etwas von ihm gehört, folglich war sein erster Besuch ziemlich überraschend. Er schneite ihnen eines Abends ins Haus. Sie können es nicht beurteilen, weil Sie ihn nie kennengelernt haben, aber er war wirklich ein sehr netter Mensch das ist sogar mir während der kurzen Zeit aufgefallen, die er im Krankenhaus von Skutari verbracht hat. Er strengte sich unglaublich an, um die anderen Verwundeten aufzuheitern, und schrieb oft stundenlang Briefe für die, die nicht dazu in der Lage waren. Er hatte für jeden ein Lächeln und sorgte für Heiterkeit, indem er kleine Witze erzählte. Es gelang ihm tatsächlich, die allgemeine Stimmung um einiges zu heben. Sicher, er war nicht so schwer verwundet wie die meisten und hatte zum Glück weder Cholera noch Ruhr.«
    Sie setzten sich langsam und dicht nebeneinander in Bewegung, um nicht die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.
    Hester zwang sich, an die Zeit in Skutari zurückzudenken. Sie stellte sich Joscelin Grey vor, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte: ein hinkender Mann, der hastig an der Seite eines Korporals die Krankenhausstufen hinunter humpelte, um das Schiff nach England noch zu erwischen.
    »Er war etwas größer als der Durchschnitt«, sagte sie laut, »schlank, blond und hinkte relativ stark – daran hätte sich vermutlich nie mehr etwas geändert. Er nannte meiner Familie seinen Namen, sagte, er wäre der jüngere Bruder von Lord Shelburne, und teilte ihnen natürlich mit, daß er auf der Krim gedient hatte und aufgrund seiner Kriegsverletzung aus der Armee entlassen worden war. Er sprach über die Zeit in Skutari und erklärte sein verspätetes Auftauchen mit der Verwundung am Bein.«
    Sie schaute in Monks Gesicht und las die unausgesprochene Frage darin.
    »Er sagte, er hätte George kurz vor der Schlacht an der Alma kennengelernt. Wie Sie wissen, kostete dieser Wahnsinn meinen Bruder das Leben. Grey war meiner Familie selbstverständlich sehr willkommen – wegen George und auch wegen sich selbst. Mama ging es sehr schlecht. Wenn junge Männer in den Krieg ziehen, weiß man zwar rational, daß sie umkommen können, aber das ist nur eine jämmerliche Vorbereitung auf den Schock, wenn es tatsächlich passiert. Für Papa bedeutete Georges Tod einen schlimmen Verlust, meint Imogen, aber für Mama war es, als hätte man ihr das Beste und Wertvollste in ihrem Leben genommen. Er war ihr Jüngster, vermutlich hatte sie deshalb immer besonders an ihm gehangen. George war –« Gegen ihren Willen stiegen Bilder aus der Kindheit in ihr hoch. Sie waren wie ein Sonnenstrahl, den man hinter Gartenmauern einzusperren versucht. »Er sah Papa von uns allen am ähnlichsten – er hatte das gleiche Lächeln, den gleichen Haarwuchs, auch wenn seins dunkel war wie Mamas. Er liebte Tiere über alles und war ein ausgezeichneter Reiter. Es lag nahe, daß er sich der Kavallerie anschloß.« Sie machte eine kleine Pause. »Jedenfalls stellte man Grey bei seinem ersten Besuch nicht allzu viele Fragen über George. Sie hielten es für unhöflich, als würden sie seinem kameradschaftlichen Verhalten dadurch nicht genug Achtung erweisen, und luden ihn ein,

Weitere Kostenlose Bücher