Das Gesicht des Fremden
stammen. Sie lassen darauf schließen, daß ich bereits etwas Wichtiges herausgefunden hatte, ich kann mich nur nicht mehr daran erinnern. Bitte, Miss Latterly, bringen Sie Ihre Schwägerin dazu, mir zu helfen!«
Ihr Gesicht hatte sich etwas verdüstert, als fürchte sie sich selbst vor dem, was da zum Vorschein kommen könnte.
»Selbstverständlich, Mr. Monk. Wenn Sie zurückkommt, werde ich ihr erklären, wie wichtig es ist, und falls sie mir etwas erzählt, werde ich zu Ihnen kommen und es Ihnen mitteilen. Wo können wir ungestört miteinander reden?«
Er hatte recht: Sie fürchtete sich tatsächlich. Sie wollte nicht, daß ihre Familie Zeuge des Gesprächs wurde – vermutlich ging es ihr in erster Linie um Charles. Er lächelte bitter, und ihre Blicke trafen sich in schweigendem Einverständnis. Sie hatten sich zu einer absurden Verschwörung zusammengetan, sie, um ihre Familie soweit wie möglich zu schützen, er, um die Wahrheit über sich zu erfahren, ehe Evan oder Runcorn ihm einen Strich durch die Rechnung machten. Er mußte wissen, warum er Joscelin Grey umgebracht hatte.
»Lassen Sie mir eine Nachricht zukommen, dann treffen wir uns im. Hydepark an der Serpentine, und zwar unten, Richtung Piccadilly. Zwei Spaziergänger werden niemandem auffallen.«
»Einverstanden, Mr. Monk. Ich werde tun, was ich kann.«
»Vielen Dank, Miss Latterly.« Er stand auf und verabschiedete sich. Hester schaute der aufrechten, eigenwilligen Gestalt nach, wie sie die Treppen hinunterging und auf die Straße hinaustrat. Sie hätte diesen Gang überall wiedererkannt; er erinnerte sie an den flotten Schritt eines Soldaten, der an stundenlanges Marschieren gewöhnt war, dennoch hatte er nichts Militärisch-Verbissenes an sich.
Als er außer Sichtweite war, kehrte Hester in den Salon zurück. Ihr war kalt, und sie fühlte sich eigenartig bedrückt, da sie aber wußte, daß kein Weg daran vorbeiführte, war sie entschlossen, seiner Bitte nachzukommen. Besser sie fand die Wahrheit gleich heraus, bevor andere es taten.
Sie verbrachte einen einsamen und elenden Abend auf ihrem Zimmer, wo sie auch das Dinner zu sich nahm. Ehe sie nicht mit Imogen gesprochen hatte, war es zu riskant, längere Zeit mit Charles zu verbringen, wie es am Eßtisch der Fall gewesen wäre. Ihre Gedanken hätten sie verraten, und das Ganze wäre in einem Fiasko geendet. Als Kind hatte sie sich eingebildet, ungeheuer gerissen und zu äußerster Verschlagenheit imstande zu sein. Mit ungefähr Zwanzig hatte sie das einmal bei Tisch erwähnt, und dadurch war die ganze Familie spontan in Gelächter ausgebrochen. Sie erinnerte sich noch deutlich an Georges verzerrtes Gesicht, während er sich vor Lachen auf seinem Stuhl gebogen hatte. Allein die Vorstellung war komisch gewesen, Hesters Gefühle waren so leicht zu durchschauen. Wenn sie glücklich war, fegte ihre Freude durchs Haus wie ein Wirbelwind – war sie traurig, verwandelte sich ihr Heim in ein Jammertal.
Es wäre nutzlos und schmerzhaft, Charles jetzt etwas vormachen zu wollen.
Erst am kommenden Nachmittag ergab sich die Möglichkeit für ein längeres, ungestörtes Gespräch mit Imogen. Sie war den Vormittag über unterwegs gewesen und kam soeben mit wehenden Röcken durch die Haustür in die Halle gerauscht. Aufgebracht stellte sie einen Korb voller Wäsche auf das Bänkchen neben der Treppe und nahm den Hut ab.
»Ich wüßte wirklich gern, was im Kopf dieser Pfarrersfrau vorgeht«, rief sie wütend. »Manchmal könnte ich schwören, sie glaubt tatsächlich, jedem Übel dieser Welt wäre mit einem gestickten Bibelspruch über gutes Benehmen, einem sauberen Unterhemd und einem Topf hausgemachter Suppe beizukommen! Und Miss Wentworth ist die letzte, die einer jungen Mutter mit zu vielen Kindern aber ohne Dienstmädchen – helfen würde.«
»Mrs. Addison?« fragte Hester prompt.
»Die Ärmste weiß nicht mehr, ob sie Männlein ist oder Weiblein! Sieben Kinder, und sie ist dünn wie ein Handtuch und vollkommen ausgelaugt. Meiner Meinung nach ißt sie nicht mal genug, um einen Spatz am Leben zu halten – geschweige denn all diese hungrigen kleinen Mäuler, die ständig nach mehr verlangen. Und was tut unsere liebe Miss Wentworth? Steigert sich alle fünf Minuten in Ohnmachtsanfälle hinein! Die Hälfte der Zeit war ich damit beschäftigt, sie vom Fußboden aufzusammeln.«
»Ich hätte auch Ohnmachtsanfälle, wenn mein Korsett so eng geschnürt wäre wie ihrs«, bemerkte Hester
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