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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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jederzeit wiederzukommen, wenn er die Zeit und den Wunsch dazu hätte.«
    »Und er tat es?« Es war das erste Mal, daß Monk eine Frage einwarf. Seine Stimme klang ruhig und gefaßt, aber sein Gesicht wirkte plötzlich ganz schmal, der Blick düster.
    »Ja, er kam sogar recht oft, und nach einer Weile fand Papa es annehmbar, über George zu sprechen. Sie hatten zwar Briefe von ihm bekommen, aber George hatte nur sehr wenig darüber geschrieben, wie es wirklich war.« Sie verzog den Mund zu einem bitteren Lächeln. »Genau wie ich. Mittlerweile denke ich, wir hätten es vielleicht tun sollen. Wenigstens Charles hätte eingeweiht werden müssen. Heute ist das nicht mehr möglich; es würde ihn nur sinnlos quälen.«
    Sie schaute an Monk vorbei zu einem Paar, das Arm in Arm durch den Park schlenderte.
    »Na ja, es spielt sowieso keine Rolle mehr. Joscelin Grey kam wieder, und eines Abends beim Dinner begann er ihnen von den Verhältnissen auf der Krim zu erzählen. Imogen meint, er hätte sich immer sehr vorsichtig ausgedrückt und wäre sehr zartfühlend gewesen. Obwohl Mama schrecklich aufgeregt war und nicht fassen konnte, unter welchen grauenhaften Bedingungen die Leute dort leben mußten, besaß er ein intuitives Gespür dafür, wieviel er sagen konnte, ohne daß bei ihr die feine Grenze zwischen tiefem Mitleid und echtem Entsetzen überschritten wurde. Er sprach über die Schlachten, aber die Seuchen und die Hungersnot verschwieg er ihnen. Außerdem redete er nur in den höchsten Tönen über George, so daß sie alle furchtbar stolz waren.
    Sie wollten natürlich auch wissen, wie es ihm selbst ergangen war. Er hatte sich in Balaklawa der ›Charge of the Light‹- Brigade angeschlossen und meinte, die Tapferkeit der Truppe wäre unvorstellbar gewesen; nirgends hätte es bisher mutigere und aufopferungsbereitere Soldaten gegeben. Andererseits sagte er aber auch, nie etwas Scheußlicheres als das dortige Gemetzel gesehen zu haben. Die Soldaten seien geradewegs in die feindlichen Gewehre hineingeritten.« Sie fröstelte, als sie an die Wagenladungen halbzerfetzter Leichen dachte, an Verzweiflung, Ohnmacht und Angst. Hatte Joscelin Grey denselben Zorn, denselben überwältigenden Schmerz empfunden wie sie?
    »Sie hatten von Anfang an nicht die geringste Chance, mit dem Leben davonzukommen«, sagte sie so leise, daß die Worte fast im Murmeln des Windes untergingen. »Darüber ärgerte er sich am meisten. Er sagte ein paar schreckliche Dinge über Lord Cardigan, und als Imogen das erwähnte, war er mir zum erstenmal durch und durch sympathisch.«
    So weh es auch tat – Monk kam nicht umhin, ihn ebenfalls dafür zu mögen. Er hatte von dieser selbstmörderischen Attacke gehört, und nachdem sich die erste Bewunderung gelegt hatte, war nichts zurückgeblieben als ein wachsender Zorn auf die unfaßbare Eitelkeit und Unfähigkeit der Befehlshaber, auf die idiotischen Eifersüchteleien, die so viele Menschenleben gefordert hatten.
    Weswegen, in Gottes Namen, konnte er Joscelin Grey dermaßen gehaßt haben?
    Sie sprach weiter, aber er hörte nicht mehr zu. Ihr Gesicht war ernst und sah abgehärmt aus. Er hätte sie gern berührt, um ihr auf diese Weise zu zeigen, daß er das gleiche empfand wie sie.
    Wie groß würde ihr Abscheu wohl sein, wenn sie erfuhr, daß er Grey in jenem grausigen Zimmer erschlagen hatte?
    »… wuchs ihnen mehr und mehr ans Herz, je besser sie ihn kennenlernten«, sagte sie gerade. »Mama fieberte seinem nächsten Besuch regelrecht entgegen. Sie traf schon Tage davor alle erdenklichen Vorbereitungen. Gott sei Dank hat sie keine Ahnung, was mit ihm geschehen ist.«
    Er verkniff sich im letzten Moment die Frage, wann ihre Mutter gestorben war. Soweit er sich erinnerte, hatte Hester etwas von einem Schock und einem gebrochenen Herzen gesagt.
    »Sprechen Sie weiter«, meinte er statt dessen. »Oder war das alles?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, da ist noch viel mehr. Wie gesagt, sie mochten ihn alle sehr gern, auch Imogen und Charles. Imogen ließ sich mit Vorliebe die Tapferkeit der Soldaten schildern und war ganz begierig auf seine Geschichten über das Krankenhaus in Skutari. Das lag vermutlich zum Teil daran, daß ich dort war.«
    Monk rief sich in Erinnerung, was er über das Militärlazarett, über Florence Nightingale und ihre Gefolgschaft gehört hatte. Die Krankenpflege war traditionsgemäß eine Männerdomäne, und die wenigen Frauen, die sich dennoch in ihr behaupten konnten, waren stark

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