Das Gesicht des Fremden
sarkastisch.
»Bestimmt muß sich ihre Zofe dabei mit einem Fuß am Bettpfosten abstützen. Armes Ding. Und Mrs. Wentworth versucht natürlich, sie mit Syndey Abernathy zu verkuppeln. Er hat einen Haufen Geld und eine Schwäche für geisterhafte Zerbrechlichkeit – sie gibt ihm ein Gefühl von Überlegenheit.«
»Ich sollte versuchen, einen passenden Bibelspruch über Eitelkeit für sie zu finden.« Imogen ließ den Korb unbeachtet stehen, ging zum Salon und warf sich in einen der breiten Sessel. »Puh, ist mir heiß; ich bin vollkommen erledigt. Martha soll uns etwas Limonade bringen. Kommst du an die Glocke?«
Die Frage war müßig, da Hester noch stand. Abwesend zog sie an der Schnur. »Es ist keine Eitelkeit«, sagte sie und meinte damit nach wie vor Miss Wentworth. »Es ist der nackte Überlebenstrieb. Was bleibt ihr denn, wenn sie nicht heiratet? Ihre Mutter und ihre Schwestern haben ihr eingeredet, daß die einzige Alternative in Armut, Schande und einem einsamen Lebensabend besteht.«
»Wo du gerade davon sprichst –« Imogen streifte ihre Stiefeletten ab. »Hast du schon was von Lady Callandras Krankenhaus gehört? Von dem, meine ich, das du verwalten möchtest?«
»So hoch will ich gar nicht hinaus. Mir reicht eine Assistenzstelle.«
»Quatsch!« Imogen streckte genüßlich die Füße aus und ließ sich noch tiefer in den Sessel sinken. »Du würdest doch am liebsten die ganze Belegschaft rumkommandieren.«
In dem Moment kam das Mädchen herein; respektvoll wartend blieb es in der Tür stehen.
»Bringen Sie uns bitte Limonade, Martha«, sagte Imogen.
»Mir ist so heiß, daß ich das Gefühl habe zu verdampfen! Dieses Wetter ist wirklich absurd. Den einen Tag regnet’s, um eine ganze Arche in Bewegung zu setzen, am nächsten kommt man um vor Hitze.«
»Jawohl, Ma’am. Hätten Sie auch gern ein paar Gurkensandwiches?«
»Oh – eine tolle Idee! Sehr gern, vielen Dank.«
»Jawohl, Ma’am.« Das Mädchen raffte die Röcke und wehte davon.
Hester überbrückte die wenigen Minuten bis zu ihrer Rückkehr mit einem belanglosen Thema. Es war ihr immer leichtgefallen, sich mit Imogen zu unterhalten. Ihre Beziehung zueinander war eher schwesterlicher Natur als die zweier grundverschiedener Frauen, die durch eine Heirat plötzlich miteinander verwandt waren. Nachdem Martha sie mit den versprochenen Broten und der Limonade versorgt und wieder allein gelassen hatte, kam sie endlich auf das zu sprechen, was ihr so dringend am Herzen lag.
»Imogen, dieser Polizist, Mr. Monk, war gestern noch mal hier –«
Imogens Hand blieb in der Luft stehen; sie hatte gerade nach einem Sandwich greifen wollen. Auf ihrem Gesicht spiegelten sich Neugier und eine gewisse Belustigung, jedoch nichts, das auch nur im entferntesten an Angst erinnerte. Andererseits war Imogen ein Mensch, der seine Gefühle perfekt verbergen konnte, wenn er wollte.
»Monk? Was wollte er denn schon wieder?«
»Worüber lachst du?«
»Über dich, meine Liebe. Du ärgerst dich zwar schrecklich über ihn, aber irgend etwas sagt mir, daß du ihn im Grunde magst. Ihr seid euch nicht unähnlich; du bist genauso leicht aufbrausend und ungeduldig, wenn es um das Verfechten der Gerechtigkeit geht, außerdem kannst du jederzeit aus heiterem Himmel unverschämt werden.«
»Ich mag ihn nicht die Spur«, brauste Hester auf. »Und diese Angelegenheit ist keineswegs lustig!« Sie spürte ein irritierendes Brennen in den Wangen. Wenn sie doch nur hin und wieder etwas von dieser weiblichen List an den Tag legen könnte, die Imogen so leichtfiel wie das Atmen. Um sie zu beschützen, würde nie ein Mann herbeigestürzt kommen – wie das bei Imogen der Fall war. Die Männer gingen davon aus, daß sie ausgezeichnet auf sich selbst aufpassen konnte – ein Kompliment, das ihr langsam zum Hals raushing!
Imogen verspeiste gelassen ihr Sandwich, ein winziges Ding von etwa fünf Zentimetern Durchmesser.
»Verrätst du mir jetzt, warum er hier war, oder nicht?«
»Sofort.« Hester nahm sich ebenfalls eins der Brote und biß vorsichtig in das hauchdünne Gebilde; die Gurkenscheibe war angenehm knackig und kühl. »Etwa zu der Zeit, als Joscelin Grey ums Leben kam, hatte er einen sehr schweren Unfall.«
»Oh – das tut mir leid. Fehlt ihm denn was? Er macht einen vollkommen gesunden Eindruck.«
»Sein Körper hat sich wohl wieder erholt«, sagte Hester. Als sie den ernsten und betroffenen Ausdruck in Imogens Augen sah, wurde ihr selbst warm ums Herz. »Aber er
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