Das Gesicht des Fremden
bekam einen heftigen Schlag auf den Kopf und kann sich an absolut nichts mehr erinnern, was vor der Zeit passiert ist, als er im Krankenhaus aufwachte.«
»Absolut nichts mehr…« Ein verblüffter Ausdruck glitt über Imogens Gesicht. »Du meinst, er erinnerte sich nicht mehr an mich – ich meine, an uns?«
»Er erinnert sich nicht mal an sich selbst«, erwiderte Hester schroff. »Er wußte weder seinen Namen, noch womit er sein Geld verdient. Ihm war sogar sein Spiegelbild völlig fremd.«
»Wie ungewöhnlich – und wie schrecklich! Ich mag mich ja auch nicht immer, aber sich ganz zu verlieren… Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie es ist, wenn man plötzlich keine Vergangenheit mehr hat, wenn sämtliche Erfahrungen ausradiert sind und alles auf einmal verschwunden ist.«
»Warum bist du zu ihm gegangen, Imogen?«
»Was? Ich meine, wie bitte?«
»Du hast mich schon verstanden! Als wir Monk zum erstenmal begegnet sind, in St. Marylebone, bist du zu ihm gegangen und hast mit ihm gesprochen. Du kanntest ihn schon. Ich nahm damals an, er würde dich ebenfalls kennen, aber das war ein Irrtum. Er kannte überhaupt niemand.«
Imogen sah weg und griff sehr behutsam nach einem weiteren Sandwich.
»Ich vermute, es handelt sich um etwas, wovon Charles nichts weiß«, fuhr Hester fort.
»Willst du mir angst machen?« fragte Imogen, die großen Augen weit aufgerissen.
»Wie kommst du denn darauf?« Hester ärgerte sich, zum Teil über ihre eigene Tolpatschigkeit, zum Teil, weil Imogen so etwas für möglich hielt. »Ich habe nicht angenommen, daß du Grund hast, dich zu fürchten. Ich wollte dir lediglich sagen, daß ich ihm nichts erzählen werde, wenn es sich vermeiden läßt. Hatte es was mit Joscelin Grey zu tun?«
Imogen, die gerade auf einer Gurkenscheibe herumkaute, mußte sich eilends vorbeugen, um nicht daran zu ersticken.
»Nein«, sagte sie schließlich, als sie wieder bei Atem war.
»Nein, das hatte es nicht! Im nachhinein kommt es mir selbst dumm vor, aber damals hoffte ich wirklich –«
»Du hofftest was? Du meine Güte, mach doch nicht so ein Geheimnis draus.«
Stück für Stück, unter Zuhilfenahme einer ganzen Menge Unterstützung, Kritik und Zuspruch von Hesters Seite, rückte Imogen mit der Sprache heraus und erzählte ihr haarklein, was sie getan, was sie wo, wie und warum zu Monk gesagt hatte.
Vier Stunden später stand Hester im goldenen Licht der Abendsonne an der Serpentine und betrachtete die glitzernde, gekräuselte Wasseroberfläche. Ein kleiner Junge in blauem Kittelchen kam mit seinem Kindermädchen an ihr vorbei. Er hatte eine Spielzeugboot unter den Arm geklemmt. Das Mädchen trug ein schlichtes Baumwollkleid und ein gestärktes Spitzenhäubchen; kerzengerade wie ein Soldat bei der Ehrenparade marschierte sie den Weg entlang. Ein Musiker der Blaskapelle, die gerade Pause hatte, warf ihr bewundernde Blicke nach.
Jenseits der Wiesen und Bäume ritten zwei vornehme Damen auf glänzenden Rappen die Rotten Row entlang. Das Klingeln des Pferdegeschirrs und das leise Getrappel der Hufe drang schwach an Hesters Ohr. Die Kutschen, die an Knightsbridge vorbei auf den Piccadilly zuratterten, wirkten auf die Entfernung wie Spielzeuge, die in eine andere Welt gehörten.
Sie erkannte Monk an seinem Schritt, noch bevor sie ihn sah. Erst als er sich fast auf einer Höhe mit ihr befand, drehte sie sich um. Er blieb etwa einen Meter vor ihr stehen. Ihre Blicke begegneten sich. Keiner sagte etwas, langatmige Höflichkeitsfloskeln wären in ihrer Situation lächerlich gewesen. Äußerlich war ihm nicht anzumerken, daß er Angst hatte, aber Hester wußte sehr gut, wie leer und verloren er sich fühlen mußte.
Sie sprach als erste.
»Imogen kam nach dem Tod meines Vaters zu Ihnen, weil sie die vage Hoffnung hegte, Sie könnten vielleicht beweisen, daß es kein Selbstmord war. Der emotionale Zustand der Familie war verheerend. Erst war George im Krieg gefallen, dann hatte Papa sich erschossen – was die Polizei zwar freundlicherweise als Unfall bezeichnete, ohne daß es jemand geglaubt hätte. Er hatte eine Menge Geld verloren. Imogen versuchte, um Charles und meiner Mutter willen noch etwas aus dem Chaos zu retten.« Sie stockte einen Moment und bemühte sich, nicht die Fassung zu verlieren. Der Schmerz saß sehr tief.
Monk stand reglos da und sagte kein Wort, wofür sie ihm ausgesprochen dankbar war. Anscheinend begriff er, daß er sie nicht unterbrechen durfte, denn sonst wäre ihr
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