Das Gesicht des Fremden
vom Fluß hochstieg, zum Schneiden dick. Sein Geist war erschöpft, versunken in einen Zustand der Stagnation, eingesponnen in das lähmende Netz der neuesten Erkenntnisse. Er brauchte etwas zu essen und ein wenig Flüssigkeit, um diesen furchtbaren Durst zu löschen, um den Gestank der Rookeries aus dem Mund zu spülen.
Ohne sich dessen bewußt zu sein, hatte er die Tür eines einfachen Eßlokals angesteuert. Er stieß sie auf und wurde augenblicklich von einem tröstlich frischen Duft nach Sägemehl und Apfelwein eingehüllt. Automatisch bahnte er sich einen Weg zum Schanktresen. Er wollte kein Bier, sondern frischgebackenes Brot und etwas von den hausgemachten Mixed Pickles, deren scharfer, süßsaurer Geruch ihn angenehm in der Nase kitzelte.
Der Wirt grinste ihn an, legte einige Brotkrusten, etwas krümeligen Wensleydale-Käse sowie mehrere eingelegte Silberzwiebeln auf einen Teller und stellte ihn vor ihm hin.
»Sie waren ja lang nich mehr hier, Sir«, sagte er gutgelaunt.
»War wohl ’n bißchen zu spät damals, um den Typen noch zu erwischen.«
Monk hielt den Teller unbeholfen mit beiden Händen fest. Er konnte den Blick nicht von dem Gesicht hinter der Theke losreißen. Wieder kehrte ein Teil seines Erinnerungsvermögens zurück. Er hatte diesen Mann schon mal gesehen.
»Den Typen?« fragte er heiser.
»Genau.« Das Gesicht vor ihm grinste immer noch breit.
»Major Grey. Als Sie das letzte Mal hier waren, haben Se den doch gesucht. Das war am selben Abend, als er umgebracht wurde, also hatten Se wohl kein Glück mehr.«
Das war es, das letzte fehlende Teil, zum Greifen nah – und entzog sich doch immer wieder mit aufreizender Geschicklichkeit dem endgültigen Zugriff.
»Sie haben ihn gekannt?« sagte er langsam, ohne den Teller loszulassen.
»So was! Klar hab ich ihn gekannt, Sir. Wissen Se doch.« Er zog die Stirn in Falten. »Erinnern Se sich nich mehr?«
»Nein.« Zum Lügen war es zu spät. »Ich hatte an diesem Abend einen Unfall. Tut mir leid, ich weiß tatsächlich nicht mehr, was Sie mir erzählt haben. Könnten Sie’s vielleicht wiederholen?«
Der Mann wackelte bedauernd mit dem Kopf und fuhr fort, die Gläser zu polieren. »Hat keinen Sinn mehr, Sir. Major Grey wurde in derselben Nacht umgebracht, den werden Se nich mehr zu sehen kriegen. Lesen Se denn keine Zeitung?«
»Jedenfalls kannten sie ihn«, beharrte Monk. »Woher? Aus der Armee? Sie haben ihn ›Major‹ genannt.«
»Stimmt genau. Hab unter ihm gedient, stellen Se sich das mal vor. Bis man mich als Invalide aus ’m Heer entlassen hat.«
»Erzählen Sie mir von ihm. Erzählen Sie mir alles, was Sie mir damals schon erzählt haben.«
»Ich hab jetzt wirklich zu tun, Sir. Wenn ich bloß faul rumsteh, komm ich nich über die Runden«, beschwerte sich der Mann. »Was halten Se davon, wenn Se später wiederkommen?«
Monk wühlte in seinen Taschen und brachte alles Geld zum Vorschein, das er darin finden konnte, bis auf die letzte Münze. Er breitete es auf dem Tresen aus.
»Gar nichts. Ich muß es sofort wissen.«
Der Mann musterte erst die funkelnden Geldstücke, dann Monk, und kam zu dem Schluß, daß es anscheinend sehr dringend war. Seine Hand glitt über die Theke und ließ das Geld blitzschnell in dem Lederbeutel unter seiner Schürze verschwinden. Als das vollbracht war, griff er wieder nach seinem Tuch.
»Sie haben mich gefragt, was ich von Major Grey weiß, Sir. Ich hab Ihnen gesagt, daß ich ihn auf der Krim kennengelernt hab – bei der Armee. Er war Major und ich ’n einfacher Soldat, aber ich hab ’ne ganze Weile unter ihm gedient. Als Offizier war er ganz ordentlich, nich besonders übel, nich besonders toll – wie die meisten eben. Hat seine Männer gut behandelt und war leidlich tapfer, genau wie die andern. Die Pferde hatten’s bei ihm besonders gut, aber das is für diese adligen Typen wohl normal.« Er kniff die Augen zusammen und meinte dann, während er sich weiterhin abwesend an seinem Glas zu schaffen machte: »Hat Sie aber alles nich so schrecklich interessiert. Sie haben zwar zugehört, schien Ihnen allerdings egal zu sein. Dann haben Se mich über die Schlacht an der Alma ausgequetscht, wo irgend so ’n Leutnant Latterly gefallen sein soll. Ich hab Ihnen erklärt, daß wir nich an der Alma gewesen sind und ich Ihnen deshalb auch nix über diesen Leutnant Latterly erzählen kann.«
»Major Grey war aber in der Nacht vor dieser Schlacht mit Leutnant Latterly zusammen.« Monk packte seinen
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