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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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selben Moment wurde die Tür wieder aufgerissen, diesmal von einem drahtigen Sergeant mit schwarzem Schnurrbart.
    »Alles in Ordnung, Sir?« fragte er, als er Monks Stirnrunzeln sah.
    »Jaja. Aber was ist denn in – äh…« Er machte eine hilflose Handbewegung in Richtung auf die davonflitzende Gestalt; wieder wünschte er verzweifelt, der Name des Mannes würde ihm einfallen.
    »Harrison?«
    »Harrison, richtig. Was ist denn in den gefahren?«
    »Gar nichts. Er hat bloß ’ne Heidenangst vor Ihnen, sonst nix. Ist ja auch kein Wunder, nachdem Sie ihn vor versammelter Mannschaft zur Minna gemacht haben, bloß weil ihm dieser eine Ganove durch die Lappen gegangen ist – obwohl er eigentlich gar nichts dafür konnte, wo der Knabe doch ’n regelrechter Schlangenmensch war; schwerer festzuhalten als ’n eingeöltes Schwein. Und wenn wir ihn abgeknallt hätten, wären wir noch vorm Frühstück selber fällig gewesen!«
    Monk war verwirrt; was sollte er dazu sagen? Hatte er sich Harrison gegenüber unfair benommen, oder hatte er guten Grund gehabt für das, was er dem Mann an den Kopf geworfen hatte? Oberflächlich betrachtet, klang es ganz so, als hätte es ihm Spaß gemacht, grausam zu sein, doch schließlich hatte er nur die eine Seite der Geschichte zu hören bekommen – es war niemand da, der ihn verteidigen, der eine Erklärung, eine Rechtfertigung liefern oder ihm verraten konnte, was er wußte.
    Und wenn man ihn auf die Folterbank spannte – er erinnerte sich an nichts, nicht einmal an Harrisons Gesicht, von besagtem Zwischenfall ganz zu schweigen.
    Er kam sich wie ein Idiot vor, wie er so dasaß und von unten in die kritischen Augen des Sergeants stierte, der ihn unverkennbar nicht mochte – seiner Meinung nach aus gutem Grund.
    Monk hätte sich liebend gern gerechtfertigt, aber weitaus wichtiger war ihm, daß er sich selbst begriff! Wie viele Zwischenfälle dieser Art würden noch aus der Versenkung auftauchen, von außen besehen Gemeinheiten, die er jemandem angetan hatte, der seine Sicht der Dinge nicht kannte?
    »Mr. Monk – Sir?«
    Er war sofort wieder bei der Sache. »Ja, Sergeant?«
    »Ich dachte, ’s interessiert Sie vielleicht, daß wir den Irren geschnappt haben, der dem ollen Billy Marlowe Saures gegeben hat. Wenn der nicht baumeln muß, freß ich ’nen Besen. So ’n Stinktier!«
    »Oh – prima. Gut gemacht.« Er hatte keinen Schimmer, wovon der Mann sprach, aber offenbar erwartete man es von ihm, also fügte er ein hastiges »Alle Achtung!« hinzu.
    »Danke, Sir.« Der Sergeant richtete sich zu voller Lebensgröße auf, drehte sich um und ließ die Tür mit lautem Klicken hinter sich ins Schloß fallen, als er aus dem Raum ging.
    Monk vertiefte sich wieder in die Arbeit.
    Eine Stunde später verließ er das Polizeirevier und spazierte langsam über das nasse, dunkle Pflaster in die Grafton Street zurück.
    Wenigstens wurden ihm Mrs. Worleys Zimmer allmählich vertraut. Er wußte, wo welche Dinge zu finden waren, außerdem – und das war wesentlich mehr wert – verschafften sie ihm eine Privatsphäre; niemand störte ihn, niemand konnte ihn unterbrechen, wenn er damit beschäftigt war, einen roten Faden in seinem Leben zu finden.
    Nachdem er ein heißes, sättigendes und schwerverdauliches Gericht aus Hammelfleisch, Gemüse und Klößen verspeist, sich bei Mrs. Worley dafür bedankt und ihr nachgeschaut hatte, bis sie mit dem Tablett am Fuß der Treppe verschwunden war, nahm er sich noch einmal seinen Schreibtisch vor. Die Rechnungen waren keine große Hilfe; er konnte schwerlich zu seinem Schneider marschieren und sagen: »Was für ein Mensch bin ich? Was ist mir wichtig? Mögen Sie mich, mögen Sie mich nicht – und warum?« Nur eins ging aus den Belegen hervor: Er schien seine Rechnungen stets prompt zu begleichen. Es gab keine Mahnungen, und die Quittungen waren alle wenige Tage nach Rechnungseingang datiert. Nun war er also ein Fitzelchen schlauer – sein Tun hatte Methode.
    Beths Briefe verrieten eine Menge über ihren eigenen Charakter; sie war unkompliziert, zeigte ihre Gefühle vollkommen unbefangen, führte ein Leben, das aus lauter wichtigen Nebensächlichkeiten bestand. Kein Worte über irgendwelche Entbehrungen, über harte Winter, nicht einmal über Schiffswracks oder die Leute auf den Rettungsbooten. Ihre Anteilnahme basierte offensichtlich auf ihren eigenen Empfindungen, denn sie schien nicht viel über ihn zu wissen. Er mußte ihr so bald wie möglich schreiben –

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