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Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
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einen Brief, der einerseits vernünftig klang, ihr andererseits aber eine Antwort entlocken würde, die ihm mehr über sich verriet.
    Am nächsten Morgen wurde er durch ein Klopfen an seiner Tür geweckt. Es war bereits spät, Mrs. Worley brachte das Frühstück. Er ließ sie herein, woraufhin sie das Tablett mit einem Seufzen und einem mißbilligenden Kopfschütteln lautstark auf den Tisch stellte. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als im Pyjama zu frühstücken, sonst wäre das Essen kalt geworden. Anschließend nahm er die Suche wieder auf, doch sie führte auch diesmal zu keinerlei neuen Erkenntnissen. Nur eins schien festzustehen: Er hatte einen guten Geschmack. Monk fühlte sich zu der Spekulation verführt, ob er es darauf anlegte, bewundert zu werden – aber was war die ganze Bewunderung schon wert, wenn sie sich nur auf Preis und Erlesenheit seiner Sachen erstreckte? War er oberflächlich? Eingebildet? Oder jemand auf der Suche nach Sicherheit, die er in sich selbst nicht fand? Jemand, der sich einen Platz in einer Welt erkämpfen wollte, die ihn seiner Meinung nach nicht so akzeptierte, wie er war?
    Die Wohnung selbst war unpersönlich, mit kitschigen Bildern und altmodischen Möbeln vollgestopft. Bestimmt war das eher Mrs. Worley’s Geschmack als sein eigener.
    Nach dem Mittagessen gab es nur noch einen Ort, an dem er nachsehen konnte: die Taschen sämtlicher Kleidungsstücke, die in seinem Schrank hingen. In dem feinsten Exemplar, einem sehr gut geschnittenen, recht streng aussehenden Mantel, entdeckte er ein Stück Papier. Er faltete es vorsichtig auseinander und sah, daß es sich um das Flugblatt eines Vespergottesdienstes in einer Kirche handelte, deren Namen er noch nie gehört hatte.
    Vielleicht lag sie ganz in der Nähe. Hoffnung stieg in ihm auf. Vielleicht war er ein Gemeindeglied, so daß ihn der Pfarrer kannte. Vielleicht hatte er Freunde dort, einen Glauben, ja sogar irgendein Amt oder eine spezielle Ausgabe! Er faltete das Blatt sorgfältig zusammen und verstaute es im Schreibtisch, dann ging er ins Bad, um sich noch einmal zu waschen und zu rasieren. Anschließend zog er seine besten Sachen an, unter anderem den Mantel, in dem er das Flugblatt entdeckt hatte. Um fünf Uhr war er fertig und machte sich auf den Weg nach unten, um Mrs. Worley zu fragen, wie er zur St.-Marylebone-Kirche kam.
    Die Enttäuschung war niederschmetternd, als diese völlige Unwissenheit zur Schau stellte. Er kochte innerlich vor Wut. Sie mußte die Kirche einfach kennen! Ihr sanftes, schlichtes Gesicht blieb jedoch vollkommen ausdruckslos.
    Er war drauf und dran, einen Streit vom Zaun zu brechen, sie anzubrüllen, daß sie es doch wissen müsse, aber im selben Moment wurde ihm klar, wie idiotisch das war. Er würde es sich mit einem der wenigen Freunde verderben, die er ohnehin bitterlich brauchte.
    Er starrte sie mit gerunzelter Stirn aus zusammengekniffenen Augen an.
    »Du meine Güte, sind Sie aber aufgeregt! Ich werd mal Mr. Worley fragen, der kennt sich gut aus in der Stadt. Ich glaub auch, daß die Kirche in der Marylebone Street liegt, aber wo genau, weiß ich nich. Is ’ne ganz schön lange Straße.«
    »Ja, danke«, sagte Monk vorsichtig; er kam sich vor wie ein Volltrottel. »Es ist wirklich wichtig.«
    »Sie wollen wohl zu ’ner Hochzeit, was?« Mrs. Worleys Blick glitt anerkennend über den sorgfältig gebürsteten, dunklen Mantel. »Was Sie brauchen, is ’n ordentlicher Kutscher, der was versteht von seiner Arbeit und Sie schnell da hinbringt.«
    Natürlich – das war die Lösung! Warum war er nicht selbst darauf gekommen? Er dankte ihr für ihren Einfallsreichtum und verließ, nachdem Mr. Worley zu Rate gezogen worden war, der meinte, es müsse irgendwo gegenüber vom York Gate sein, das Haus, um nach einem Kutscher Ausschau zu halten.
    Der Vespergottesdienst hatte bereits angefangen, als er die Stufen hinaufrannte und in den Vorraum stürzte. Die Stimmen hoben sich soeben recht dünn, um das erste Loblied einzustimmen. Es klang eher pflichtergeben als froh. War er religiös? Oder religiös gewesen? Abgesehen von einer gewissen Wertschätzung für die schlichte Schönheit der Steinmetzarbeit, empfand er nicht die Spur Wohlbehagen oder wenigstens Ehrfurcht.
    Er betrat den Hauptraum und ging dabei fast auf den Außenkanten seiner polierten Stiefel, um sowenig Lärm wie möglich zu machen. Ein oder zwei Köpfe drehten sich nach ihm um, die dazugehörenden Gesichter strotzten vor beißendem Vorwurf.

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