Das Gesicht des Fremden
besonders… den Hof gemacht hat.«
Scarsdale stieg die Zornesröte ins Gesicht. »Davon weiß ich nichts!«
»Hat er gespielt?«
»Keine Ahnung. Ich spiele selbst nicht – das heißt, nur mit Freunden natürlich, und dazu hat Grey nicht gehört. Jedenfalls ist mir nichts dergleichen zu Ohren gekommen, falls Sie das meinen.«
Monk wurde klar, daß er an diesem Abend nicht mehr viel weiter kommen würde, außerdem war er müde. Das Mysterium seines eigenen Lebens ließ ihn nicht los. Sonderbar, wie aufdringlich Leere sein konnte. Er erhob sich.
»Ich danke Ihnen, Mr. Scarsdale. Ich bin sicher, Sie lassen es uns wissen, falls Sie irgend etwas hören sollten, das Licht auf die letzten Tage in Major Greys Leben wirft oder einen Hinweis auf mögliche Widersacher gibt. Je eher wir den Kerl festnehmen, desto besser für uns alle.«
Auch Scarsdale stand auf; sein Gesicht wirkte plötzlich verkniffen. Schuld daran war der zarte, aber lästige Wink, daß sich der Mord gleich gegenüber zugetragen hatte und seine Kreise sogar bis hierher zog, in Scarsdales eigene vier Wände.
»Selbstverständlich«, entgegnete er ein wenig scharf. »Wenn Sie mir nun gestatten würden, mich umzuziehen – wie Sie wissen, bin ich zum Dinner verabredet.«
Evan erwartete ihn bereits, als er auf dem Revier eintraf. Monk staunte, wie sehr er sich darüber freute, den jungen Kollegen wiederzusehen. War er immer einsam gewesen, oder lag es nur an der Isolation, in die er durch seine Amnesie geraten war? Bestimmt existierte irgendwo ein Freund – jemand, mit dem er Freud und Leid geteilt oder zumindest über alltägliche Erlebnisse gesprochen hatte. Hatte es denn keine Frau in seinem Leben gegeben, wenigstens früher? Gab es keinerlei Erinnerungen an Zärtlichkeit, an fröhliche oder traurige Stunden? Wenn nicht, mußte er ein regelrechter Eisblock gewesen sein! Hatte sich vielleicht eine Tragödie abgespielt? Irgendein fürchterliches Unrecht?
Wieder stürmte ein Gefühl unbeschreiblicher Leere auf ihn ein und drohte die ohnehin unsichere Gegenwart zu verschlingen. Er besaß anscheinend nicht einmal Angewohnheiten, mit denen er sich trösten konnte.
Evans kluges Gesicht war ihm jedenfalls willkommen.
»Irgendwas rausgekriegt, Sir?« Er rappelte sich eilends von dem Stuhl hoch, auf dem er gesessen hatte.
»Nicht viel«, erwiderte Monk lauter und barscher als beabsichtigt. »Abgesehen von dem Mann, der gegen Viertel vor zehn bei Yeats war, kann kaum jemand ins Haus gekommen sein, ohne daß der Portier ihn gesehen hätte. Laut Grimwade war er ziemlich groß und bis über die Ohren vermummt, was bei so einem Wetter kein Wunder ist. Kurz nach halb elf ging er wieder. Grimwade brachte ihn rauf, hatte ihn aber nicht aus der Nähe gesehen und würde ihn wohl nicht wiedererkennen.«
Evan sah aufgeregt und frustriert zugleich aus.
»Mist!« entfuhr es ihm. »Dann kann’s ja jeder x-beliebige gewesen sein!« Er warf Monk rasch einen anerkennenden Blick zu. »Immerhin haben wir jetzt eine ungefähre Vorstellung, wie er ins Haus gekommen ist. Das ist ein riesengroßer Schritt vorwärts! Meinen Glückwunsch, Sir.«
Monk spürte seine Lebensgeister vorübergehend neu erwachen, obwohl ihm klar war, daß es eigentlich keinen Grund dafür gab; in Wirklichkeit war der Schritt sehr, sehr klein. Er ließ sich auf dem Stuhl hinter dem Schreibtisch nieder.
»Um die Einsachtzig«, wiederholte er Grimwades Beschreibung, »dunkelhaarig und höchstwahrscheinlich ohne Bart. Ich nehme an, das schränkt den Kreis der in Frage Kommenden ein wenig ein.«
»Oh, ganz gewaltig, Sir!« versicherte Evan eifrig, während er sich wieder hinsetzte. »Wir wissen jetzt, daß es kein Gelegenheitsdieb war. Wenn der Kerl Yeats einen Besuch abgestattet hat – oder zumindest so tat als ob –, hat er das Ganze geplant und sich die Mühe gemacht, das Gebäude auszukundschaften. Er wußte, wer sonst noch dort wohnte. Und dann ist da natürlich noch Yeats selbst. Waren Sie bei ihm?«
»Nein, er war nicht zu Hause, außerdem möchte ich mir erst ein Bild von ihm machen, bevor ich ihn mit der Sache konfrontiere.«
»Klar. Falls er tatsächlich etwas weiß, wird er vermutlich ganz versessen darauf sein, es abzustreiten.« Trotzdem verrieten Evans Gesicht und Stimme ungeduldige Vorfreude; sein ganzer Körper schien sich unter dem eleganten Mantel anzuspannen, als rechne er jeden Moment damit, daß im Polizeirevier ein unerwarteter Tumult ausbrechen würde. »Der Kutscher war
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