Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Gesicht des Fremden

Das Gesicht des Fremden

Titel: Das Gesicht des Fremden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Perry
Vom Netzwerk:
endlich eine Spur haben, die geradewegs zur Entdeckung dieses Monsters führt.« Seine Oberlippe kräuselte sich andeutungsweise. »Sie sind für gewöhnlich dermaßen unverblümt, fast schon unverschämt – trotz Ihres oberfeinen Getues –, daß sie Ihnen glauben wird.« Sein Ton schlug plötzlich um; er wurde sanft wie ein Lamm. »Weshalb glauben Sie, daß es jemand war, der ihn kannte? Verrückte können sich die übelsten Mordmethoden ausdenken; solche Irren schlagen einfach blind drauflos, hassen einen für nichts.«
    »Mag sein.« Monk gab sowohl Runcorns Blick als auch dessen Abneigung aus ganzem Herzen zurück. »Aber sie spionieren nicht die Namen der restlichen Hausbewohner aus, statten ihnen einen Besuch ab und machen sich dann wieder auf den Weg, um jemand anders umzubringen. Wenn der Täter lediglich ein mordlüsterner Psychopath war, warum hat er sich dann nicht an Yeats ausgetobt? Wozu sich noch mit Grey abgeben?«
    Runcorn machte große Augen; es widerstrebte ihm, aber er mußte die Logik des Gedankens einsehen.
    »Finden Sie soviel wie möglich über diesen Yeats heraus«, befahl er. »Und unauffällig, denken Sie dran! Ich will nicht, daß er verscheucht wird!«
    »Was ist mit Lady Shelburne?« Monk tat ganz unschuldig.
    »Fahren Sie zu ihr. Und benehmen Sie sich wie ein zivilisierter Mensch, Monk, versuchen Sie’s wenigstens! Evan soll die Yeats-Sache übernehmen und Ihnen Bericht erstatten, wenn Sie zurück sind. Nehmen Sie den Zug. Sie werden ein oder zwei Tage in Shelburne bleiben. Nach dem Krawall, den sie geschlagen hat, wird es Lady Shelburne kaum überraschen, Sie zu sehen. Schließlich hat sie einen persönlich überbrachten Rapport über unsere Fortschritte verlangt. Also, aufgeht’s. Stehen Sie hier nicht rum wie ein Ölgötze, Mann!«
    Monk entschied sich für einen Zug der Great Northern Line. Er rannte über den Bahnsteig in der King’s Cross Station und schaffte es gerade noch, aufzuspringen und die Waggontür hinter sich zuzuschlagen, als die Lok sich mit einem kräftigen Ruck in Bewegung setzte. Es war ein aufregendes Gefühl, diese Woge aus gewaltiger Kraft, gesteuertem Maschinenlärm und der zunehmenden Geschwindigkeit, als sie aus dem höhlenartigen Gewölbe des Bahnhofsgebäudes in das grelle Licht der Spätnachmittagssonne hinausschossen.
    Monk ließ sich auf dem freien Platz gegenüber einer voluminösen Frau nieder. Sie trug ein Kleid aus schwarzem Bombasin, hatte ungeachtet der Jahreszeit eine Pelzpelerine um, und ihren Kopf zierte ein gefährlich schief sitzendes, schwarzes Hütchen. Auf ihrem Schoß lag ein Proviantpaket, über das sie sich unverzüglich hermachte. Ein kleines Männchen mit riesenhafter Brille beäugte die Brote hoffnungsvoll, sagte jedoch nichts. Ein weiterer Mann in gestreiften Hosen war voll und ganz in seine Times vertieft.
    Sie brausten zischend und stampfend an Mietskasernen, Häusern und Fabriken, Krankenhäusern, Kirchen, Gasthäusern und Bürogebäuden vorbei. Nach und nach waren sie immer dünner gesät, so daß auch einmal ein Fetzen Grün zwischen ihnen aufblitzte, bis sie die Stadt endlich hinter sich gelassen hatten. Monk ließ seinen Blick mit Vergnügen über die liebliche Landschaft schweifen, die sich in ihrer hochsommerlichen Pracht endlos weit vor ihm erstreckte. Mächtige Äste hingen in grünen Wolken über Kornfeldern, deren Ähren sich unter der Last des reifen Getreides bogen, und buschigen Wildrosenhecken. In den Senken zwischen den sanften Hügeln drängten sich kleine Baumgruppen aneinander. Spitze oder auch gelegentlich eckige, mit normannischen Rundbögen ausgestattete Kirchtürme wiesen schon von weitem auf eine Ansiedlung hin.
    Shelburne kam Monk viel zu schnell, denn er konnte sich an der Schönheit des Ganzen nicht sattsehen. Ungehalten nahm er seine Reisetasche von der Gepäckablage, zwängte sich entschuldigend und ihre stumme Mißbilligung auf sich ziehend – an der fetten Dame in Schwarz vorbei und öffnete hastig die Tür. Auf dem Bahnsteig erkundigte er sich bei dem verloren wirkenden Bahnwärter, wo Shelburne Hall liege, und bekam zur Antwort, kaum mehr als einen Kilometer entfernt. Der Mann wies mit dem Arm in die entsprechende Richtung, zog die Nase hoch und meinte dann: »Aber zum Dorf sind’s drei Kilometer in die andere Richtung, und wahrscheinlich wollen Se da hin!«
    »Danke, aber ich muß zum Herrenhaus. Geschäftlich«, erwiderte Monk.
    Der Bahnwärter zuckte mit den Schultern. »Sie werden’s ja

Weitere Kostenlose Bücher